Zeit und Wille

 

 

- Seit einigen Jahren wird der freie Wille auch in den Neurowissenschaften bestritten. Einige Vertreter wähnen durch Versuchsanordnungen wie dem Libet-Experiment, in denen eine entsprechende neurologische Aktivität der angeblichen Willensentscheidung vorauszugehen scheint, eine ohnehin determinierte naturwissenschaftliche Kausalität bestätigt.   der freie wille und das libet-experiment >>

 

- Eine moderne Form der lutheranischen Lehre? "Hier stehe ich und kann nicht anders"?

 

 - Luther vertrat seine Thesen zur Negierung des freien Willens weniger nachdrücklich als der schweizerische Reformator Calvin, der die Lehre von der „Doppelten Prädestination“ formulierte, hierin dem Islam ähnlich „Allah lässt in die Irre gehen wen er will und führt recht wen er will“. Sure 14,4.

 

- Sie führte bei Calvin zu der Ansicht, Wohlstand sei ein Zeichen göttlicher Gnade und Armut zeuge von deren Ferne. Vor diesem Hintergrund der calvinistischen Lehre wurde das Streben nach Reichtum zur Tugend erklärt. Damit wurde der Wert des Tuns nicht mehr im Erschaffen eines Werks und in der Hingabe an dasselbe gesehen, sondern im Erwerb von Reichtum, bei dem es letztlich egal war, wie er zu erlangen sei. Die moderne Börsenwirtschaft ist eine Folge.

 

- Der, wie Luther und Erasmus, ebenfalls im Zeichen Skorpion geborene Augustinus hatte zwölfhundert Jahre zuvor die Lehre von der doppelten Vorbestimmheit angerissen und darüber einen ähnlichen Streit mit Pelagius geführt, der in den augustinischen Thesen manichäistische Strukturen erkannte. Entsprechend nimmt sich Luthers Vergleich aus, mit dem menschlichen Willen verhalte es sich wie mit einem Pferd, das entweder von Gott oder vom Teufel geritten werde.

 

- Die Kirche hatte, trotz der Verehrung des Augustinus, die Lehre von der Vorbestimmtheit und die Leugnung des freien Willens schon zum Ende der Spätantike verworfen. Die Thematik blieb jedoch bis zu Thomas von Aquin ungeklärt. Die Leugnung der Willensfreiheit erweist sich als ein deterministisches Verständnis der Zeit und des Anfangs. Sie setzt letztlich auch Gott eine gewissermaßen absolute Zeit, und damit Determination voraus.

 

 - Die direkte naturwissenschaftliche Entsprechung zur calvinistisch-protestantischen Gesellschaftslehre, wonach Wohlstand ein Zeichen göttlicher Gnade sei, bildet Darwins Evolutionslehre, mit dem „surviving of the fittest“. Darwin hatte, wie er in seiner Schrift „Entstehung der Arten“ bezeugt, „die Soziallehre des Thomas Malthus auf die gesamte Tier- und Pflanzenwelt angewendet“.

Malthus vertrat die Lehre, im Sinne der Auslese komme einem Menschen, dessen Arbeit die Gesellschaft nicht benötige, keine Lebenserhaltung zu und die Natur gebiete ihm abzutreten.

 

- Es war Luthers Devise, dem Volk aufs Maul zu schauen und damit beim Übersetzen der Bibel das Geläufige zum Maßstab sprachlicher Präzision zu machen. So ersetzte er das wörtlich übertragene und auch sinngemäß zutreffende Wort "Im Anfang", das  bereschit -  בְּרֵאשִׁית ,  mit dem die Genesis beginnt, durch die Formulierung „Am Anfang“.

 

- Das Geheimnis des ersten Wortes der Genesis ist darin nicht mehr enthalten.

 

- Einen ähnlichen Übergriff beging Luther bei dem Satz den Jesus am Kreuz spricht "Eli, Eli lama schabachthani". Luther ersetzte das schabachthani durch asawthani  aus dem 22. Psalm. Was freilich in den späteren protestantischen Luther-Übersetzungen dann wieder rückgängig gemacht wurde.

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 - "En Arche" - heißt es bereits in der ersten Übersetzung der Thora, der griechischen Septuaginta. Sie wurde der Überlieferung nach in Alexandrien von zweiundsiebzig Schriftgelehrten erarbeitet. Diese waren übereingekommen, ein jeder möge sich in Klausur begeben, um zu übersetzen. Am Ende sollen dann alle Texte übereingestimmt haben.

 

- Luther, der weder Hebräisch noch Griechisch beherrschte, griff auf die lateinischen Übertragungen des Erasmus sowie auf die Vulgata zurück. Aber auch in dieser heißt es "in principio".

 

- Jemand könnte einwenden, die hebräische Präposition ba/be -  ב komme durchaus nicht nur beim ersten Wort der Genesis vor, sondern generell bei Ereignissen. 

Auch die Aussage "am Abend"  - בערב - ba'erev würde wörtlich übersetzt "im Abend" bedeuten, was aber im Deutschen halt nicht gebräuchlich wäre. Ein zeitliches "am" gibt es im Hebräischen nicht. Nur ein räumliches "am" im Sinne von "neben" - lejad.

 

- Es drückt sich darin die Beziehung zu den Dingen aus. Sie sind auf den Menschen hin und ihm zum Gegenüber. Er soll sie ansprechen, ihnen Namen geben.

So auch das Verhältnis zur Zeit. Es kann nur ein "im" geben. Ein Zeitpunkt ist eine Beziehung, ein Augenblick, in dem der Mensch steht. In jedem Augenblick ein Anfang. "Wann, wenn nicht jetzt", sagt Hillel.

 

 - Die anthroposophische, dem Griechischen "En Arche" angepasste Übertragung "Im Urbeginne" versucht das Prinzipielle dieses Anfangs zu erfassen. "Im Anfang" bedeutet, dass die Zeit selber erschaffen wird.

 

- Indem der Anfang von der Ewigkeit ausgeht, neben der es nichts anderes gibt, heißt es "Im Anfang".

 

- Das erste Wort der Genesis macht deutlich, dass das Ereignis die Zeit zeugt und nicht etwa die Zeit vorausgesetzt ist. Dass der Anfang aus dem ungeteilten Alle-Zeit wirkt und die Zeit bewirkt.

 

- In Wirklichkeit geht jeder Anfang von der Ewigkeit aus. Sonst wäre es kein Anfang.

 

 

- Zur Frage des Willens äußert Thomas von Aquin: „Der Wille gehorcht in bestimmtem Sinne immer sich selbst, dass nämlich der Mensch, auf welche Weise auch immer, das will, was er wollen will.

In bestimmtem Sinne aber gehorcht er nicht immer sich selbst, sofern nämlich einer nicht vollkommen und wirksam will, was er vollkommen und wirksam wollen möchte.“  („Thomas von Aquin“, Joseph Piper)

 

- Das Letztere griff Schopenhauer auf. Er hielt dagegen: "Ein Mensch kann zwar tun, was er will, aber nicht wollen, was er will." Wenn der Wille durch den Willen begründet sei, setze sich die Begründung fort.

 

 - Freilich hebt sich der Begriff des Willens auf, wenn der Mensch nicht wollen kann, was er will. Wille wird entweder zum kausalen Vorgang oder, im Sinne Calvins und Luthers, zur doppelten Vorbestimmung, und wäre nichts anderes "als Ton in der Hand des Töpfers".

 

- Thomas hingegen leitet den Willen aus der Erkenntnis ab, die ihm vorangestellt sei. Denn nur aufgrund des Erkennens und der Urteilskraft kann der Mensch entscheiden - und kann wollen, was er will.

 

- Indes bleibt gültig: "der Wille gehorcht in bestimmtem Sinne immer sich selbst". Eine Tautologie besteht hier nur scheinbar. Der Wille als Ausdruck der Identität, nämlich dessen, was „sich selbst das Selbe ist“ Heidegger, welches im brennenden Dornbusch zu Moses spricht, „Ich bin der Ich bin“, aus dem Nichts und durch nichts begründbar, kann nur auf diese Weise artikuliert werden: der Mensch kann wollen, was er will.

 

 - Gegen Augustinus, der im Sinne seiner Negierung des freien Willens auch Zwang als legitimes Mittel ansah, - wie auch gegen Luther und Calvin - steht der Satz seines Zeitgenossen Gregor von Nyssa:

„Mehr als alles andere ist wichtig, dass wir keinerlei Notwendigkeit unterworfen und keiner Macht in Hörigkeit untergeben sind; sondern es steht bei uns, zu tun nach eigenem Ratschluss und Belieben. Denn die Tugend ist eine Sache der Freiwilligkeit und keiner Herrschaft untertan. Was aus Zwang und Gewalt erwächst, ist ebendeshalb keine Tugend." (Gregor von Nyssa, de hominis opificio)

 

 

- Der Wille ist gleichbedeutend mit dem Anfang: Er ist aus dem Nichts.

Romano Guardini definiert darin das Person-Sein des Menschen: dass er einen eigenen Anfang hat. 

 

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(C) Herbert Antonius Weiler, April,2025

 

 

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