Der gesamte Essay findet sich in dem Buch:
Warum Moses das versprochene Land nicht betreten durfte /
Perspektive
(Textauszug)
Mit der Entwicklung der perspektivischen Darstellung in der Renaissance wurden fortan die Ereignisse und Dinge in der Malerei durch den konstruierten Raum bestimmt und nicht mehr der Raum durch die Bedeutung der Inhalte gebildet.
Das Bild hatte keinen eigenen Anfang.
Das Wagnis des Beginns aus dem Nichts konnte mit der perspektivischen Konstruktion kalkuliert und geregelt werden.
Damit war allgemein die sich etablierende Vorstellung verbunden, nach der die Dinge und Ereignisse in einen bereits vorhandenen Raum und in eine vorausgesetzte Zeit gestellt und durch die Gesetze des Raumes und der Zeit bestimmt seien.
Diese Vorstellung war Voraussetzung des Wissenschaftsdenkens, welches die Ereignisse als determinierte Geschehnisse vorausgegangener verursachender Geschehnisse in einer vorausgesetzten Zeit auffasste. Die Welt als Descartes Ideale Maschine.
In der Malerei konnte man nun auf der Malfläche eine illusionistische, dreidimensionale Ebene mit zunächst einem, dann zweien oder drei Fluchtpunkten anlegen, in die man dann, bestimmt durch die perspektivischen Gesetze, die zu malenden Objekte hineinstellte.
Farben und Gestalten wurden zu Füllmaterial. Entweder sie verblassten, wie bei Masaccio, oder erschienen, wie bei Dürer, in der sterilen Willkür des Kalküls. Die Italiener nannten Dürer einen "Schönfärber".
Die Fluchtlinien in Masaccios Fresco, Heilung eines Gelähmten ,
Santa Maria del Carmine
Im Zuge dieser Entwicklung kommt es, bei Masaccio, im Jahre 1425 folgerichtig zu einer Darstellung der Dreifaltigkeit, in der Gott durch Raum und Zeit determiniert erscheint und als Phänomen dargestellt wird: Gottvater, der bislang jeder bildhaften Darstellung entzogene, unfassbar wirkende Urgrund des Seins, als bärtiger alter Mann.
Die Maler der Renaissance knüpften mit der perspektivischen Konstruktion, wie auch bei der anatomischen Darstellung des menschlichen Körpers, an die damals wiederentdeckte griechische und römische Kunst der Antike an.
Dort hatte man einst, in vorchristlicher Zeit, bereits einmal eine Frühform der perspektivisch-illusionistischen Darstellung entwickelt, noch ohne Fluchtpunkte und Berechnung.
So bei den Wandmalereien in der Casa dei Vettii >> in Pompeji. In der Spätantike und im Mittelalter jedoch, gab man diese zugunsten aperspektivischer Darstellungsweisen wieder auf.
Aus moderner Sicht wird dieser Wandel gerne als Verlust eines einstmals vorhandenen Wissens und in diesem Sinne als technischer Rückschritt angesehen.
Angesichts der Kontinuität, mit der allein die technischen Errungenschaften der griechisch-römischen Kultur im späteren christianisierten oströmischen Byzanz gepflegt und fortgeführt wurden, etwa der Standard der Wasserleitungen oder das „Griechische Feuer“, jene Waffe, deren Zusammensetzung andernorts niemand verstand und durch welche die byzantinische Flotte über Jahrhunderte die Seeherrschaft innehatte, erscheint die Ansicht, die Pflege der Künste habe sich allein in der technischen Bewältigung perspektivischer Raumkörper zurückentwickelt, abwegig.
Vielmehr wird in dem byzantinischen Verzicht auf perspektivischen Realismus in der Malerei eine geistige Entwicklung sichtbar, die aufgrund der Ausbreitung des Christentums und der damit verbundenen Auffassung des Individuums mit einem neuen Verständnis der Person und der Gestalten einhergeht.
Hier beginnen die Gestalten und Ereignisse in der Malerei den Raum zu bilden. Durch sie entsteht der Raum.
Nicht nur erscheinen bedeutende Personen hinsichtlich ihres Wirkens größer; Gegenstände und Linienführung werden vom vierten Jahrhundert an nicht nur aperspektivisch, sondern erscheinen in einer Umkehrperspektive, sie werden zum Bildhintergrund hin größer anstatt kleiner.
Die Fluchtlinien sürzen nicht in einem Zentrum zusammen, wie in der Zentralperspektive, sondern streben zur Peripherie.
Dies sei die Sehweise der Engel, lautete eine Begründung in der späteren russischen Ikonenmalerei.
Mosaik über dem südwestlichen Eingang der Hagia Sophia. Die Jungfrau Maria in der Mitte mit dem Christuskind, rechts von ihr Kaiser Justinian mit einem Modell der Hagia Sophia, links Kaiser Konstantin mit einem Modell von Konstantinopel. Der erhöhte Sockel, als auch die Modelle sind in Umkehrperspektive dargestellt.
Nicht nur waren die spätantiken illusionistischen perspektivischen Versuche nicht weiter betrieben worden, trotz anderer technischer Innovationen, sondern es entwickelte sich eine gegengerichtete Perspektive, die der zentrifugalen Fluchtlinien, die sich zum Hintergrund hin vergrößerten.
Der Fluchtpunkt, die räumliche Orientierung, befindet sich bei der Umkehrperspektive nicht in einem illusionistischen Raum im Bild, sondern davor, im Betrachter. Das Bild lässt die Person des Betrachters zum Gegenüber werden.
Der Verzicht auf die Vortäuschung eines Raumes in der Fläche erschafft einen Empfindungsraum, zwischen Bild und Betrachter. Diese Malerei betrügt nicht die Fläche, sondern erschafft die Dinge in der Fläche, aufgeklappt, so dass sie eine räumliche Gleichzeitigkeit erhalten und damit eine Gegenwart finden, die nur in der malerischen Fläche möglich ist.
Es kommt mit der Umkehrperspektive zu einer Impulsation: Ebbe und Flut, das Periphere wird nahe, das Nahe wird peripher. Der Rhythmus von Peripherie und Mitte. Das Wort Zeit kommt von Tide, das den Rhythmus von Ebbe und Flut benennt.
Dies ist das Ereignis.
Die konstruierte Perspektive mit zusammenfallenden Fluchtpunkten entspricht der Erfassung des Raumes im Zeichen Zwillinge.
Sie steht dabei im Dienste des vorhergehenden Zeichens Stier, das es zur Mitte zieht.
(Wolfgang Döbereiner, Astrologisch definierbare Verhaltensweisen in der Malerei, Delacroix)
Was bei den Malern des Zeichens Stier wie der Sog zur Mitte anmutet, wird bei den Vertretern des Zeichens Zwillinge zum Sog der Spiegelung, zum Sog in die Raumillusion.
Der Zentralperspektive und der illusionistischen Darstellung entgegen steht das Anliegen der Wassermann-Maler. Sie streben zur Peripherie.
Das Bild der Umkehrperspektive führt zur Peripherie. Das Periphere wird nahe.
Wenn in den Darstellungen der Dinge die Fluchtlinien zum Hintergrund hin größer wurden, so war darin das Wirkende hinter allen Dingen gesehen. Der Hintergrund ist das Bedeutendere. In den sich ver-größernden Linien scheint das Erlebnis der Gegenwart des Wirkens des Himmels hinter der Erscheinung auf.
(...)
(C) Herbert Antonius Weiler 2015
© H e r b e r t A n t o n i u s W e i l e r