Thomas von Aquin über die Zeit

Alles zugleich

 

 

Gott wirkt im Geschöpfe; und Er wirkt zumal dies, daß das Geschöpf als solches auch wirkt.

Aber was ist in diesem Wirken dem Geschöpfe, soweit aus dem Nichts stammt, wahrhaft zu eigen?

Hier offenbart sich erst in all seiner Bedeutung dieses Nichts.

„Was ist Gegenwart?" fragt Augustin. „Während ich spreche, ist das Wort, welches ich ausgesprochen, bereits vorbei und dasjenige, welches ich sprechen werde, ist noch nicht." „Gewesen und wird sein," fuit et erit; siehe da das Maß für die Thätigkeit der Geschöpfe.

 

Was gewesen, das ist nicht mehr; was sein wird, das ist noch nicht. Immer das Nichts ist dieses Maß, soweit es auf das Geschöpf ankommt. „Vorher und Nachher" nennt Thomas dieses Maß.

Die Zeit ist das beständige fließende Maß. Nichts bleibt gemäß ihr bestehen. Vergangenheit und Zukunft hat die Zeit; Gegenwart hat sie nicht. Sprich: hier ist etwas. Während du sprichst, ist es schon nicht mehr das, was es im vorhergehenden Augenblicke war. „Wie das Wasser, welches dahinfließt, ist die Zeit," sagt der Heide, „du kannst keinen einzelnen Wassertropfen zweimal berühren."

 

 

Es steht fest nur der Ewige; und in Ihm allein „steht die fließende Welle" des Zeitlichen, stetit unda fluens. (Deutero. 32.) Nur der Ewige hat keine Teile, von denen der eine nicht der andere ist. Alles Sein ist Er; und Er ist es zugleich. Ein Augenblick; — aber ein Augenblick, welcher immer bleibt, ist sein Maß. Nur wer sein Wirken an den Ewigen heftet, nur wer im Hinblicke auf den Ewigen thätig ist und von ihm all sein Handeln in erster Linie bestimmen und leiten läßt; — nur dessen Handlungen gewinnen Beständigkeit; bleiben fest und dauerhaft im Meere der Ewigkeit; nehmen teil an dem instans perpetuum; erringen wahre Gegenwart.

 

 

Alles zugleich! Das ist das Merkzeichen der Ewigkeit. Die Ewigkeit wirft ihre Strahlen mitten in die Zeit. Daß man sich diese Vollkommenheit ja nicht als müßige Ruhe vorstelle! Wenn im Wirken des Geschöpfes sich Urstoff und Substanz, Form und Stoff, Sein und Suppositum, Eigenschaft und Existenz so wunderbar durchschlingt, daß da alles zugleich sich vorstellt; — so ist dies gerade das specielle Wirken der Ewigkeit, es ist ein Strahl vom ewigen Lichte. Und wenn die Sonne da oben und das Meer da unten, wenn die entferntesten Gestirne dort oben und die Abgründe hier unten, wenn Pflanze und Tier, die Sandkörner am Meeresstrande und die Granitfelsen der hohen Gebirge; wenn alles in dieser unermeßbaren Welt zusammenwirkt, daß das eine angewiesen ist auf das andere, daß das eine entlehnt vom anderen; das eine seinen Halt findet im anderen; wenn so alles im All sich vereint zu harmonischer Thätigkeit; — so ist dieses „ganz und zugleich" wieder ein matter Strahl der Ewigkeit, die da gerade als Ewigkeit das ganze wirkende Sein Gottes in einem Augenblicke ohne Wandel messend zugleich erschöpft.

 

Thomas von Aquin, Summa Theologica, Quaestio 10, Prooemium >>