Polarität und Dualität
- Es kommt öfters vor, dass beim politischen Geplänkel von dem Vertreter der einen Partei, der Vorwurf gemacht wird, der Gegner würde polarisieren. Das ist insofern verwunderlich, als das in einer industriellen Gesellschaft das Verständnis von Polarität doch soweit vorhanden sein müsste, zu erkennen, dass Polaritat allein im Bereich der Energierzeugung nicht nur unverzichtbar ist, sondern Grundlage jeglicher Dynamik.
- Vielleicht hat man ihr gerade auf diese Weise einen funktionalen Bereich zugewiesen, sie zum Vorgang gemacht und aus der Begegnung und dem Gemeinwesen, das man zusehends als einheitlichen Block begreift, ausgeschlossen.
- Aus der Begegnung kann die Polarität nicht ausgeschlossen werden, weil es dann keine Begegnung mehr ist und sie sich aufhebt. Begegnung bedeutet Polarität. Nicht ohne Grund ist das "gegen" in dem Wort inbegriffen, genauso wie in Gegenwart, Gegenüber oder zugegen-sein.
- Bei den Begriffen Polarität und Dualität kann es zu Missverständnissen kommen, insbesondere wenn im Hintergrund die verbreiteten Konzepte der indischen Theologie bzw. der Esoterik stehen, wo Dualität im Unterschied zur Einheit formuliert wird, dvaitha und advaitha, Zweiheit und Nicht-Zweiheit.
Denn sprachlich bedeutet ja Dualität nichts anderes als Zweiheit.
- Und bei der Polarität sind es ja auch zwei Pole die einander gegenüberstehen und aus deren Begegnung in der Polarität im Gegeneinanderstehen das Neue entsteht.
- In einem einschlägigen Werk der esoterischen Ratgeberliteratur mit dem programmatischen Titel "Krankheit als Weg" wird der Sündenfall im Paradies als ein Heraustreten aus der Einheit erklärt. Die Polarität, so die beiden Autoren, sei der Verlust der Einheit.
- Tatsächlich ist es jedoch der Verlust der Polarität, nämlich der Verlust der Ich-Du-Beziehung zu Gott, der den Sündenfall auszeichnet.
Dies, indem die Schlange Eva veranlasst, über Gott zu reden. In dieser Rede wird erstmalig Gott, das Ewige Du, Martin Buber zum Thema gemacht. Damit fällt der Mensch aus der Treue der unmittelbaren Ansprache der Ich-Du-Beziehung heraus. Das, so Dietrich Bonhoeffer, sei bereits der Sündenfall. Das Verzehren der Frucht vom verbotenen Baum der Erkenntnis stellt eine Folge dar.
- Romano Guardini schreibt, die Frucht vom Baum der Erkenntnis sei dem Menschen zu einem späteren Zeitpunkt ohnehin zuteil geworden. Auf die Rede der Schlange einzugehen und ihr zu gehorchen, habe ihn aus der Entwicklung gerissen.
- Die etymologische Deutung des esoterischen Ratgebers, der Begriff der Sünde hinge daher mit Absonderung zusammen und beziehe sich auf die Absonderung aus der Einheit im Paradies, ist inhaltlich unzutreffend, da in der Geschichte vom Paradies eine Einheit nicht erzählt wird, sondern die Polarität von Himmel und Erde, Gott und Mensch, Mann und Frau, sowie Mensch und Natur bereits gegeben war.
- Dem Begriff der Einheit zufolge, ist ein Außerhalb ihrer nicht denkbar, da alles Eines in Einem ist. Ein Absonderung wäre nicht möglich, es sei denn sie geht von der Einheit selber aus.
- Dies entspricht dem Begriff des Zimzum >>, dem Rückzug Gottes, der bereits bei Heraklit als schöpferischer Rückzug des Feuers erwähnt wird: Er nennt das Feuer Rückzug und Überfluss. Rückzug ist Weltbildung Fragmente, 64,65
- Beim Begriff des Zimzum sind es die Wasser der Alleinheit, die sich zurückziehen zu einer Peripherie, die damit erst Mitte und Peripherie schaffen. jidgu - wie die Fische >>
Dies ist die Urtrennung, die Schaffung von Himmel und Erde in der Genesis: Im Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde. Nicht heißt es Am Anfang, sondern Im Anfang , weil mit dieser Trennung auch die Zeit, die Trennung von Früher und Später angelegt wurde. Haschamaim lautet das Wort für Himmel im Urtext, wörtlich die dortigen Wasser.
- Warum dortig ?
- Weil das Ungeteilte, die Wasser der Alleinheit nicht mehr allüberall waren, sondern dort. Und so in der Mitte das Trockene entstand. Das ist die Erde, das Wort des Urtextes, Haaretz, bedeutet zwar Erde oder Land, im eigentlichen Sinne jedoch das Trockene.
Dies ist Rückzug Gottes, die Beziehung die der Einheit Gottes innewohnt. Die Schöpfung entsteht aus dem Rückzug der Einheit, so dass ein Bereich entsteht, Haaretz, der nicht mehr unmittelbar alleins ist, sondern in Beziehung steht, so Martin Buber, der hier von Urdistanz und Beziehung spricht.
- Der Sündenfall besteht mithin nicht in der Polarität, sondern im Sinne der Absonderung ist sie der Verrat der Polarität, der Verrät am Du. Sie ist die Absonderung aus der Beziehung, die Absonderung von der Polarität.
Sie ist die Manie, in der die Anderheit als Gegenüber, als Du, verdrängt wird.
- Daher besteht der Sündenfall bereits darin, dass Eva mit der Schlange über Gott redet, zu dem der Mensch bisher nur in der Ansprache des Du gesprochen hatte. Nun machte er Gott zum Thema, zur Verhandlungssache. Damit war er aus der Innigkeit der Beziehung herausgefallen. Deswegen sagt die Schlange im Anschluss -Ihr werdet sein wie Gott -. sein wollen wie Gott, heißt ihn als Gegenüber zu verdrängen.
Dies ist der Austritt aus der Polarität und der Eintritt in die Dualität.
- Polarität bedeutet Wachs und Siegel, Jin und Jang, Peripherie und Zentrum, Innen und Außen, Ebbe und Flut, Erde und Himmel, Nacht und Tag. Auf diese Weise entsteht aus der Scheidung und dem Gegenüber der Polaritäten ein Drittes, die Begegnung.
Die Dualität hingegen stellt eine Verweigerung der Polarität dar - der Andere wird als Gegenüber verdrängt, abgedrängt, versachlicht.
- Die Polarität entsteht im Zeichen Wassermann. Sie teilt das Ungeteilte des Zeichens Fische.
Und es sind immer wieder die im Zeichen Wassermann Geborenen, die sie hervorheben. Martin Buber hat das anschaulich mit dem Begriffspaar der Ich-Du-Beziehung artikuliert, die sich von der Ich-Es-Beziehung unterscheidet. In der Ich-Es-Beziehung wird der Andere wie überhaupt die Schöpfung nicht als Gegenüber, als Du erkannt, sondern nur als ein Es, damit als Benutzbares, zu Vereinnahmendes oder zu Bekämpfendes.
Das ist die Dualität. In der Dualität wird das Andere letztlich verdrängt, damit hebt sich letztlich auch das Subjekt auf.
Einer der Weichensteller des Wissenschaftsdenkens, Francis Bacon, definierte Erkenntnis der Natur als Erkenntnis des Nutzens. Das ist die Grundlage der Wissenschaft, die, indem sie den Zweck quasi entsubjektiviert und damit bestimmungslos gemacht hat, ihn generalisiert hat, heute als "objektiv" auftritt.
- Dualität bedeutet, das Entgegenkommende nicht als Gestalt, als Gegenüber, das als Du erkannt werden will, zuzulassen, sondern es zu verweigern und zu bekämpfen.
- Das andere wäre der Weg vom Zeichen Waage über Skorpion zum Schützen - in der Waage ist es die Begegnung mit dem Anderen, die Gegenwart, eigentlich ein Erschrecken, der Blitz, der von einem Ende des Himmels zum anderen leuchtetet Lukas, 17:24. Der Weg von einem Ende des Himmels zum anderen ist Weg der oberen Tierkreiszeichen, vom Zeichen Fische bis zum Zeichen Waage.
Im Skorpion wird der Andere als Du - als Person, als auch ein Ich wie Du, >> erkannt. Das ist die Geschichte von St. Martin, der Heilige vom 11 November, >> der mit dem Schwert seinen Mantel teilt, um dem Frierenden die eine Hälfte zu geben. Der Mars des Abends.
Und im Schützen wird der andere in der Ausgeliefertheit seines Subjekts, seiner Not begriffen. Und das führt zu Freiheit des vierten Quadranten, Steinbock, Wassermann, Fische. Für einen selbst und auch
für den Anderen.
- Ilya Prigogine, der Entdecker der Chaostheorie fordert Wissenschaft als "Dialog mit der Natur", so sein Buchtitel. Ein Wassermann. Ebenso Romano Guardini, der vom Gegensatz als Schöpfungsprinzip spricht.
Die Griechen, die das Denken im Sinne des Gegensatz-Prinzips der Subjekt-Objekt-Trennung entwickelt haben, waren so Wolfgang Döbereiner, auch Wassermann. Man könnte meinen, die chinesische Tao-Philosophie mit dem Konzept von Jin und Jang sei die Vorlage für die griechische Erfassung von Subjekt und Objekt, respektive des Bildes von Wachs und Siegel gewesen. Tatsächlich war es wohl umgekehrt, denn Heraklit, der das Gegensatzprinzip erstmals formulierte, lebte ein bis zwei Jahrhunderte vor Lao Tse, der den Taoismus begründete.
- Beides wäre nicht möglich gewesen, wenn Gott sich nicht den Hebräern als Gegenüber zu erkennen gegeben hätte im brennenden Dornbusch. Und wenn ihnen diese Polarität von Ich und Du nicht zum Erlebnis und zur Erfahrung geworden wäre. Sie hatten es ins Erleben gebracht, bei ihnen war zum Ereignis geworden, was die Griechen schließlich im Denken nachvollziehen konnten.
- Das Denken, nämlich die Scheidung von Subjekt und Objekt, Ich und Du, ist das, was den Menschen auszeichnet, dadurch wird er Person. Die Vorstellung, sofern sie bestimmend wird, ist hingegen die Verweigerung des Denkens - denn wer sein Gegenüber nicht mehr zulässt, indem er es durch eine Vorstellung ersetzt, verweigert das Denken. Daher heißt es: Du sollst Dir kein Bild machen.
Deshalb sagte Heidegger: "Die Wissenschaft denkt nicht". Im Sinne der von Bacon definierten Zweckbestimmtheit jeglicher Erkenntnis, kann sie das Gegenüber nicht als Gestalt erkennen, sondern nur seine Merkmale beobachten, katalogisieren und buchhalten.
- Denken ist etymologisch mit Danken verknüpft, das Erkennen des Gegenübers meinend.
Das indische Wort für Denken, manas, geht auf dieselbe Wurzel wie das Wort Mensch zurück.
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(C) Herbert Antonius Weiler, Juni, 2023
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