Naphtali Herz Wessely
Biur (Erläuterung) zu 3. Mose 19,18
in: Moses Mendelssohn: Die fünf Bücher Mose zum Gebrauch der jüdischdeutschen Nation, Berlin 1783, 134a
»Und du sollst deinen Nächsten lieben dir gleich [kamocha]
Und ich mache [dazu ferner] geltend, dass das Wort kamocha in der Sprache der heiligen Schrift diese Absicht nicht enthält, sondern kamocha [dort] die Bedeutung hat: der dir ähnlich ist wie [.. .1 [
So wird in 1. Mose 44,18 Joseph von seinem Bruder Juda angesprochen]: »Denn du bist gleich wie Pharao«; [das heißt,] du gleichst in deiner Machtfülle der Machtfülle Pharaos. [So redet in 1. Mose 41,39 Joseph den Pharao an:] »Keiner ist so einsichtig und weise wie du«, [das heißt, keiner] gleicht dir, [keiner] ist dir ähnlich.
Und so [heißt es auch in 2. Mose 15,11]: »Wer ist wie du unter den Göttern, Ewiger?«
Und so ist es an allen [anderen] Stellen [wo das Wort kamocha vorkommt] und so auch hier [3. Mose 19,18]. Die Begründung [zu dem Gebot] »Du sollst deinen Nächsten lieben« [lautet]: Denn er ist wie du, er gleicht dir, er ist dir ähnlich; denn auch er wurde erschaffen im Bilde Gottes [siehe 1. Mose 1,26 f.; 9,6], und so ist er ein Mensch wie du. Und dies schließt alle Menschenkinder ein, denn sie alle wurden im Bilde [Gottes] erschaffen...
(Mischna Abot 3,14) Und dies gilt auch dann, selbst wenn er Böses tut; er wurde erschaffen in der Ähnlichkeit Gottes zu herrschen und zu wählen und er vermag Gutes zu wählen. Und entsprechend sagte Ben Azzai: [Der Vers 1. Mose 5,1] »Dies ist das Buch der Nachkommen Adams« ist ein noch größerer Grundsatz, denn in diesem Schriftvers heißt es [weiter: »Am Tag, da Gott den Menschen schuf,] in der Ähnlichkeit Gottes macht er ihn«. Und so wiederholte Ben Azzai diesen großen Grundsatz in seinem Lehrespruch [‚ in dem es heißt]: »Achte jeden Menschen.« [Mischna Abot 4,3] Und so hat auch Salomo gesagt: »Es verachtet seinen Nächsten der Unverständige, doch der Verständige schweigt.« (Sprüche 11,12)
Und da wir das alles schon in unserer Erläuterung von Mischna Abot verdeutlicht haben, ist es [unverkennbar] angebracht, [den Vers 3. Mose 19,18] ins Deutsche zu übersetzen mit: »Liebe deinen Nächsten, weil er ist wie du.«
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Franz Rosenzweig
Der Stern der Erlösung, 2. Auflage 1930 = 1954, II, 196
Die Liebestat des Menschen ist ja nur scheinbar Tat. Es ist ihm von Gott nicht gesagt, seinem Nächsten zu tun, was er sich selbst getan haben möchte. Diese praktische Form des Gebots der Nächstenliebe zum Gebrauch als Regel des Handelns bezeichnet in Wahrheit nur die untere negative Grenze, die es im Handeln zu überschreiten verbietet, und wird deshalb auch besser schon äußerlich in negativer Form auszusprechen sein.
Sondern der Mensch soll seinen Nächsten lieben wie sich selbst. Wie sich selbst. Dein Nächster ist »wie du«. Der Mensch soll sich nicht verleugnen. Sein Selbst wird eben hier im Gebot der Nächstenliebe erst endgültig an seiner Stätte bestätigt.
Die Welt wird ihm nicht als ein unendliches Gemeng vor die Augen gerückt, und mit dem hinweisenden Finger auf dies ganze Gemenge ihm gesagt: das bist du. Das bist du — höre also auf, dich davon zu unterscheiden, gehe in es ein, in ihm auf, verliere dich daran. Nein, sondern ganz anders: aus dem unendlichen Chaos der Welt wird ihm ein Nächstes, sein Nächster, vor die Seele gestellt, und von diesem und zu-nächst nur von diesem ihm gesagt: er ist wie du. »Wie du« also nicht »Du«. Du bleibst Du und sollst es bleiben. Aber er soll dir nicht ein Er bleiben und also für dein Du bloß ein Es, sondern er ist wie Du, wie dein Du, ein Du wie Du, ein Ich...
Ebd. III, 18
Liebe deinen Andern, er ist kein Andrer, kein Er, sondern ein Ich wie Du, »er ist wie du«
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