Der Buchfink
Die Katze kam jeden Tag zu Besuch. Nun hatte sie einen Vogel geschlagen. In der Nachmittagssonne hatte sie sich auf dem Rasen niedergelassen. Ganz ruhig, saß sie da im Gras. Beim
Näherkommen gewahrte er neben ihr den Vogel, der ebenso ruhig dort saß. Beide blickten in die gleiche Richtung. Eine seltsame
Gemeinsamkeit. Ein Schrecken über ihnen. Die Zeit stand still.
Er fasste den Vogel, der sich offenen und schauenden Auges, aber völlig regungs- und widerstandslos in die Hand nehmen ließ. Als er ihn umdrehte, sah er am Bauch die klaffende Wunde. Groß wie ein Daumennagel. Der Vogel schien in einem Schockzustand. Und die Katze saß daneben. Ohne sich weiter mit ihm zu beschäftigen. Fast, als hätte sie ein Bewusstsein ihrer ruchlosen Tat.
Ihre Leute wohnen am anderen Ende der kleinen Straße, einige Häuser weiter unten am Hang. Sie besucht gerne reihum die Nachbarschaft, dabei hat sie sich bei denen, die ihr gewogen sind, heimisch gemacht. Sie erhält dort Futter und übernachtet gelegentlich. Zugenommen hat dies, nachdem ihre Besitzer einen Hund angeschafft hatten. Seitdem hält sie sich, wie es scheint, fast nur noch bei den Häusern am oberen Hang auf. Sogar eine Katzenklappe, die einst wegen eines längst verstorbenen Familienkaters eingerichtet worden war, wird von ihr benutzt..
Sie ist eine sehr unternehmerische Dame, ein ausgeprägt eigenständiges Wesen. Einige hielten sie zunächst für einen Kater. Aber bei weiteren Begegnungen, stellte sie sich als Katze heraus. Das Fell braun und weiß gescheckt, mit blauen Augen. Sie hat ein Schicksal. Aus Südfrankreich wurde sie mitgebracht, wo man sie aus einem verwaisten Swimmingpool gezogen hatte. Sonst wäre sie ertrunken.
Meist kommt sie unbemerkt durch die spaltweit offene Terrassentür ins Haus, grüßt kurz, geht zum Trockenfutternapf und legt sich dann zum Schlafen in den Schaukelstuhl auf der Galerie. Am Abend zieht sie wieder los, vermutlich zu ihren Freunden nebenan. Das geht schon etliche Jahre so.
Der Vogel, ein junger Buchfink, lag völlig regungslos auf dem Rücken, als er ihn in der Hand hielt und schaute ihn an. Würde er an einer solchen Verletzung nicht ohnehin sterben? Wäre man nicht verpflichtet, sein Leiden zu beenden? Das ist es, was in solchen Situationen geredet wird.
Aber so, wie der Vogel ihn anschaute, schlossen sich diese Überlegungen aus. Er nahm ihn mit ins Haus und stieg die Treppe zum Giebelzimmer hoch, wo das Nähzeug seiner Schwester deponiert war. Sie war vor einem Jahr gestorben, ein und ein halbes Jahr, nachdem ihr Mann verstorben war, er hatte das Haus geerbt, jedoch lag es ihm noch fern, die Einrichtung zu ändern oder gar Möbel auszumustern.
Er griff sich eine feine Nadel, in der noch ein Faden steckte. Der Vogel lag immer noch regungslos, mit dem Bauch nach oben in seiner Hand. Er legte ihn genau so auf die Fensterbank unter dem Giebel, wo viel Licht war.
Es galt nun unter dem Federkleid den Rand der Wunde zu finden. Unmittelbar am Rand, so wusste er, ist die Haut schmerzunempfindlich wegen des Wundschocks. Diesen Bereich muss man treffen, da
nur dort das Einstechen der Nadel und das Durchziehen des Fadens schmerzlos möglich sind, sticht man zu weit, tut es dem Vogel weh und er zappelt. Hier ging es relativ problemlos. Ein Stich
hin, dann von der anderen Seite des Risses ein Stich her, und noch einmal hin und her. Nicht mehr als viermal, dann konnte er die Wunde zusammenziehen, den Riss schließen und den Faden
verknoten.
Der Vogel hatte sich die ganze Zeit, vom Auffinden bis zum Zusammenziehen der Naht, nicht bewegt. Das ist das Erstaunliche. Nur geschaut und mit den Augen geblinzelt hatte er. Als aber die
Wunde geschlossen war, begann er sofort unbändig zu zappeln, entwand sich der Hand und flog in eine Ecke des Zimmers.
Er musste ihn fangen, allein um die Enden des herabhängenden Fadens noch abschneiden zu können. Das war nicht einfach, da er sich nun heftig bewegte, sogar mit dem Schnabel zu beißen
versuchte und offenbar unbedingt freikommen wollte. Da ihm der Flug durchs Zimmer scheinbar keine Schwierigkeiten machte, öffnete er das Fenster und hielt ihn auf der Hand sitzend heraus. Er
flog gleich davon. Die Furcht, er könnte abstürzen, zerstreute sich, denn er flog in einem großen Bogen zu einem weit entfernten Gebüsch.
Er fragte sich, ob er bei einer so großen Verletzung durchkommen würde. Zumal eigentlich der Faden noch gezogen werden müsste. Ob er sich dazu in zwei Wochen einfinden würde, ist jedoch kaum
wahrscheinlich. So war es halt das, was ging. Pflegen hätte man ihn nicht können, da er schon viel zu agil war. Eine Nachbarin seiner Kölner Wohnung, die früher als Pflegerin in der
Uni-Klinik gearbeitet hatte, meinte zur Frage der Gefahr einer Sepsis, der Faden würde bei nur vier Stichen vermutlich einfach irgendwann abfallen.
Das Erstaunliche war diese wache Regungslosigkeit des Vogels, die unmittelbar nachdem die Wunde zusammengezogen und geschlossen war, in einen unbändigen Freiheitsdrang mündete. So, als hätte
der Buchfink einen Schutzengel. Vielleicht der Schutzengel aller Finken, der ihm die Regungslosigkeit vermittelt hat, solange die Wunde offen war. Und der ihm, als sie geschlossen war, ein
Bewusstsein vom Ende der Gefahr mitgeteilt hat. Nun konnte es wieder losgehen.
Die Katze kam danach ins Haus, druckste ein wenig wie Falschgeld herum und verschwand dann wieder, um eine Woche fernzubleiben. Sie wusste, dass man nach der Aktion nicht gut auf sie zu
sprechen war.
Katzen, findet er, müssen keine Vögel schlagen. Sie können Mäuse jagen. Das hat seine Ordnung. Mit Vögeln ist es anders. Eine Katze, die auf einen Vogel lauert, ist das Urbild der Sünde. Und
die Katzen wissen das. Der Ausdruck, wenn sie auf Mäuse lauern, ist ein ganz anderer. Wenn etwa der Hauskater der Bäckerei Haidlmaier in Köln auf der Apostelnstrasse des Morgens vor die Tür
der Backstube tritt, um den Tag zu begrüßen, hat das den Ausdruck rechtschaffender Zuständigkeit nach getaner nächtlicher Arbeit. Es scheint, als gehöre die Bäckerei ihm. Einen Garten hat er
dort nicht, auf Vögel zu lauern hat er keine Gelegenheit. Aber täte er es, sähe es gewiss anders aus.
Aber die Katze kam dann doch wieder. Irgendwann hatte er ihr verziehen, weil ihm klar wurde, dass der Trieb der Katzen, etwas Beweglichem nachzuspringen, so groß ist - sie können nicht
anders. Dafür sind sie halt Katzen. Er hatte sich erinnert, wie sie einmal die Schrankwand hochgesprungen war, weil sie einem, vom Glas der Armbanduhr gespiegelten Fleck Sonnenlicht
nachjagte. Da begriff er die Ausgeliefertheit und verzieh ihr. Mit ihrem katzeneigenen Sinn hat sie dann wohl gemerkt, dass ein anderer Wind wehte. Und von da an kam sie wieder.
Vielleicht kommt der Vogel auch wieder.
---
Die Frage, ob er durchkommt und von der Verletzung genesen wird, lässt sich anhand des Horoskops seines Abflugs erörtern. Dies ist das Bild des
Augenblicks, als er nach der OP vom Giebelfenster aus losflog:
Vogel fliegt nach OP davon, 25.08.2021, 13:29 Uhr, Kürten
Der Herrscher des Sommer-Verbundes ist das Zeichen Krebs, das von Haus acht nach neun geht, damit ein Anliegen anzeigend, bei dem allgemein Leben erhalten und geschützt werden soll, Der Mond als Planet des Zeichens steht in Haus fünf im Widder, dort, wo es, bei Vorgabe dieses Anliegens, um ein unmittelbares einzelnes Leben geht. Der Mond ist durch Mars, Venus und Merkur aspektiert, was auf einen Riss im Gewebe hindeutet. Die Durchführung mit der Sonne aus Haus neun am MC fügt etwas verbindlich zusammen, dabei wiederum mit Mars-Merkur in der Jungfrau in kalkulierter Weise ins Gewebe stechend, zusammennähend, als heilender Eingriff.
Der Mond steht in Opposition zur Venus in Haus elf, die den Uranus am Deszendenten im Zeichen Stier beherrscht, daher, mit Quadrat zum Saturn, das Bild des gefangenen Vogels anzeigend. Herrscher des Deszendenten ist die Venus in Haus elf im Parallelzeichen Waage
Indem Uranus über die Venus ins elfte Haus mitgenommen wird, kommt der gefangene Vogel zur Freiheit. Die Verbindung von Venus in Haus elf und Mond in Haus fünf zeigt an, dass das verletzte, bedrohte Leben wieder freikommt und fliegt.
---
Vor Jahren hatte schon mal bei einem Vogel eine Bauchwunde genäht. Daher wusste er, dass es möglich ist. Es gab auch eine erfolgreiche Rückmeldung. Nicht indem der genesene Patient wiederkam, sondern von der älteren Dame, die ihn nach der Behandlung der Wunde in Pflege genommen hatte. Eine pensionierte Augenärztin aus den rumänischen Karpaten, die sich seit dem Tod ihres Mannes hin und wieder um verletzte Tiere kümmerte.
Der Vogel, eine Taube, hatte am Straßenrand vor einem Park in Köln auf dem Weg zur Straßenbahnstation gelegen, als er vorbeiging. Sie lag auf dem Rücken und auf ihrem Bauch klaffte eine so große Wunde, dass man die Organe sehen konnte.
Zunächst dachte er, ein Tier hätte sie gerissen. Aber vermutlich hatte sie sich diese Verletzung beim Landeanflug an einer dieser scharfzackigen Taubenabwehranlagen aus hartem Kunststoff zugezogen. Auch sie schaute einen, wie der Buchfink, mit ganz wachen Augen an. Sie schaut einen so klug an, sagte die Augenärztin später.
Es war ein Samstag im November und es regnete. So nahm er sie mit nach Hause und platzierte sie zunächst auf dem Balkon der Stadtwohnung. Niemand war zu erreichen, auch die pensionierte Augenärztin nicht. Er wusste nicht, was er mit ihr tun sollte. Ein paar Stunden vergingen, die Taube lag noch immer völlig regungslos auf dem Rücken. Eine andere Stellung war gar nicht möglich. Am Bauch die klaffende Wunde mit den offenliegenden Organen.
Wenn weitere Zeit verstrich, würde sie sterben. Also nahm er eine Nadel und einen grünen Baumwollfaden und fasste die Ränder des Risses und nähte sie zusammen. Die Taube blieb regungslos und hatte offenbar keine Schmerzen, solange er nicht weiter als zwei bis drei Millimeter von den Rändern entfernt die Nadel ansetzte. Es war nicht leicht, wegen der Federn. Einmal stach er zu weit, da wurde sie unruhig und wollte sich entwinden. Er setzte neu an und es ging. Die Verletzung der Taube war größer und tiefer als die des Buchfinks. Bei einer solchen Wunde galt es den Faden mehrmals abzuschneiden, zu verknoten und neu zu beginnen, eigentlich ein Klammern, da sich die Haut des Vogels sonst verziehen würde.
Er hatte nach einem möglichst glatten Faden gesucht. Und da war ihm ein glatter, grüner Baumwollfaden in die Hände gefallen. Später schien ihm, als hätte der Faden grün sein müssen. Ein glückliches, dunkles, heilendes Grün
Nachdem er den Riss in der Bauchdecke zugezogen und vernäht hatte, legte er den Vogel wieder auf den Rücken, gebettet in einen Pappkarton. Nun war die Wunde wenigstens geschlossen. Erst am Abend des folgenden Tages erreichte er die pensionierte Augenärztin. Sie nahm den Vogel dann in Pflege. Am Montag ist sie mit ihm zur Tierärztin gegangen. Diese fand an der Versorgung der Wunde nichts auszusetzen. Da müsse man nichts weiter machen als es heilen lassen.
So nahm die pensionierte Augenärztin aus den Karpaten die Taube mit in ihre Wohnung, hoch über dem Kaiser-Wilhelm-Ring, und fütterte sie. Ab und zu erkundigte er sich nach ihr. Die Augenärztin meinte, Sehnen und Muskeln seien bei einer so großen Verletzung geschädigt und deshalb müsse sie mit der Taube Reha-Übungen machen. Abends, beim Fernsehen, hat sie sie vor sich hin auf ihren Schoss gelegt und hat ihr sachte die Beine vor und zurück bewegt und genauso die Flügel. Zwei Wochen später ging sie mit ihr zum Tierarzt, um die Fäden ziehen zu lassen. Nach einer Weile machte die Taube dann die ersten Flugversuche. Sie quartierte sie schließlich im Badezimmer ein, wo sie hin und her fliegen konnte.
Es war November gewesen, als die Taube verletzt am Straßenrand gefunden worden war. Und als der April kam, ging ihre Pflegerin mit ihr hinaus auf den Friesenplatz zu den Bänken, wo die großen Straßenbäume stehen. Es war Frühling geworden in der Stadt. Sie setzte sich, öffnete die Schachtel, die in den vergangenen Monaten die Behausung der Taube gewesen war. Und diese flog auf, zur Krone des nächsten Baumes, wo auch die anderen Tauben saßen. Dort verharrte sie eine Weile, dann flog sie davon.
Und das erzählte die rumänische Augenärztin aus den Karpaten ihm dann später.
-
© H e r b e r t A n t o n i u s W e i l e r