Im neunzehnten Jahrhundert entstand innerhalb des osteuropäischen Judentums, ausgehend von Polen, die insbesondere der Mystik zugewandte Bewegung der Chassidim. Martin Buber erblickte in ihren Lehren eine Essenz der jüdischen Religion im Sinne seiner Philosophie des Dialogischen Prinzips - der Ich-Du-Beziehung als des Zulassens des Gegenübers und des Erkennens der Gestalt. 

In seinen Erzählungen der Chassidim sammelte er Geschichten und Anekdoten, die von den verehrten, oft als wundertätig geltenden Lehrern der chassidischen Mystik erzählen.

In der Geschichte von Rabbi Baruchs Gedankengang über die Medizin für seine erkrankte Tochter kommt das Dialogische Prinzip Martin Bubers in einer Weise zum Ausdruck, in der das Verständnis von Krankheit und Heilmittel eine neue, wesentliche Deutung erhält:

Der Mensch als Gegenüber der Natur, die mit ihm gefallen ist, unerlöst und des Erkennens bedürftig.

Nicht nur sind die Heilmittel in der Natur dazu da, im Sinne der homöopathischen Entsprechung die Krankheiten der Menschen zu heilen. Auch die Krankheiten sind dazu bestimmt im Sinne des Gegenübers und der Entsprechung die Gifte in der Natur zu heilen.

 

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Einst brachte Rabbi Baruch für seine kranke Tochter Arzneien aus der Kreisstadt mit.

Der Diener hatte sie im Fenster der Herberge aufgestellt.

Rabbi Baruch ging in der Stube auf und nieder, sah die Fläschlein an und sprach: Wenn es Gottes Wille ist, dass meine Tochter Reisel genese, bedürfte es keiner Arznei.

Aber wenn Gott seine Wundermacht allen Augen offenbarte, hätte kein Mensch mehr die Wahl.

Damit den Menschen die Wahl verbleibe, kleidet Gott sein Tun in den Wandel der Natur.

So hat er die Heilpflanzen erschaffen.'

 

Dann ging er wieder die Stube ab und fragte:

Aber warum sind es Gifte, die man den Kranken eingibt?'

Und antwortete:

Die Funken, die von der Ursünde her in die Hüllschalen gefallen waren und sich in Steine, Gewächse und Tiere einwandelten, sie alle steigen durch die Weihe des Frommen, der in Heiligkeit an ihnen arbeitet, in Heiligkeit sich ihrer bedient, in Heiligkeit sie verzehrt, zu ihrem Quell empor.

Wie sollen aber die Funken erlöst werden, die in die bittern Gifte und Giftkräuter fielen? Dass sie nicht verstoßen bleiben, hat Gott sie den Kranken bestimmt, jedem die Träger der Funken, die der Wurzel seiner Seele zugehören. So ist der Kranke selber ein Arzt, der die Gifte heilt.'

 

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aus: Martin Buber, Die Erzählungen der Chassidim 

  

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