Immanuel Kant:
 

Wer da stiehlt, macht aller anderen Eigentum unsicher, er beraubt sich also (nach dem Recht der Wiedervergeltung) der Sicherheit alles möglichen Eigentums: er hat nichts und kann auch nichts erwerben, will aber  dennoch leben; welches nun nicht anders möglich ist, als dass andere ihn ernähren. Weil dies der Staat nicht umsonst tun wird, muß er diesem seine Kräfte zu beliebigen Arbeiten überlassen und kommt auf gewisse Zeit, nach Befinden auch auf immer, in den Sklavenstand. -

Hat er aber gemordet, so muß er sterben. Es gibt hier kein Surrogat zur Befriedigung der Gerechtigkeit.

Emanuel Kant,  Vom Straf- und Begnadigungsrecht, aus: Metaphysik der Sitten

 

 

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Martin Buber:

Antwort auf eine Rundfrage zur Todesstrafe 1928

Meine Antwort auf die mir vorgelegten Fragen kann ich in die nachstehenden Sätze zusammenfassen:

1. Die Todesstrafe ist partieller Selbstmord ohne legitimiertes Subjekt.

2. Sie wirkt nicht abschreckend, nur durch ihren Schrecken die Menschen noch tiefer in die Wirrnis hinein verstörend.

3. Dem Selbstschutz der Gesellschaft müssen durch seinen Zweck die Grenzen gezogen sein, und sie müssen immer neu nachgeprüft werden.

Martin Buber, Antwort auf eine Rundfrage zur Todesstrafe 1928, aus:  Nachlese, 1965, Verlag Lambert und Schneider

 

 

 

 

 

 

 

 

Kategorischer Imperativ und Befürwortung der Todesstrafe

 

Ein Gespräch 

 

 

   

- Wie kommt Martin Buber zu der Feststellung, die Todesstrafe bedeute partiellen Selbstmord?

 

- Der, welcher einen anderen tötet oder seinen Tod veranlasst, tötet sein Gegenüber. Damit hebt er sich auch selber als Subjekt auf. Er tötet etwas in sich selbst. Das ist ein ursprüngliches Empfinden. Es erschließt sich aus Bubers Gedanken vom Ich und Du. Darin artikuliert er, wie das Person-Sein des Menschen, sein Ich, aus der Erkenntnis und dem Zulassen seines Gegenübers, dem Du, erwächst. Wer sein Du eliminiert, löst auch sein Ich auf.

Buber überträgt das auf das Gemeinwesen, das erst aus der Ich-Du-Beziehung erwächst. Hier ist sowohl der Einzelne davon betroffen als auch das Gemeinwesen als solches: Das Gemeinwesen tötet sich selbst, indem es, unter der Vorgabe der Gemeinschaftssicherung, das Individuum tötet. Es hebt sich in seiner Grundlage auf. 

 

- Kant betonte, seine Maxime des Kategorischen Imperativs - handle so, als könne der Maßstab deines Handelns zum Prinzip des Handelns aller werden - sei nicht suspendierbar. Unter allen Bedingungen, auch gegenüber einem Mörder, habe man wahrhaftig zu sein, andernfalls begehe man einen Rechtsbruch. Wer das Recht willentlich bricht, stelle dessen allgemeine Gültigkeit in Frage und mache somit gesellschaftliches Leben unmöglich.

Auch könne kein Mensch zu einem Zweck missbraucht oder auf einen Zweck reduziert werden.

 

 - Aber gerade mit dieser Maxime wird alle Lebensregung und alles Zusammenleben zum Zweck gemacht. Mehr als je zuvor. Nämlich indem das Individuum als Funktion der Gemeinschaft begriffen wird. Der Weg zum Gemeinschaftszwang, über den des preußischen Militärstaats zu dem des Nationalsozialismus, ist darin vorgezeichnet. 

 

- Kant widerspricht indes selbst dem ethischen Anspruch seines Imperativs mit seiner Begründung der Todesstrafe. Ein Mörder müsse sterben, so Kant, zur Befriedigung der Gerechtigkeit. Ein Widerspruch zu seiner Folgerung des Kategorischen Imperativs, wonach kein Mensch zu einem Zweck missbraucht oder zum Zweck gemacht werden darf.

Nun nennt er die Hinrichtung die einzig adäquate Strafe für einen, der gemordet hat, mit der Begründung, nur dann sei von einer Befriedigung der Gerechtigkeit zu sprechen. 

 

- In der Tat ein Widerspruch, da der Gerechtigkeit hierbei eine Absolutheit zugebilligt wird, sie sogar personifiziert wird, etwa indem sie befriedigt sein kann. 

Die Gerechtigkeit kann jedoch in der Philosophie Kants nur einen intersubjektiven Konsens darstellen, der sich daran  ausrichtet, gesellschaftliche Bedingungen zum Nutzen aller zu schaffen.

 

- Das Recht der Vergeltung ist daraus nicht abzuleiten und willkürlich gesetzt. Eine Befriedigung der Gerechtigkeit durch den Tod des Delinquenten stellt die Reduktion auf einen Zweck dar und steht im Widerspruch zur vorgeblichen Ethik des Kategorischen Imperativs.

 

- Der Widerspruch stellt freilich Kants Imperativ in seinem Grundgedanken bloß.

Er liegt in der Sache und wird in seiner Befürwortung der Todesstrafe nur offenbar, da eben die Maxime, stets so zu handeln, dass das eigene Handeln als Maßstab der Gemeinschaft gelten kann, die Gemeinschaft zu einem funktionalen Selbstzweck werden lässt, in der der Einzelne auf den Zweck der Gemeinschaftserhaltung und Gemeinschaftsverrichtung reduziert ist. Das ist die Essenz der Lehre Kants.

 

- Die Wertschätzung der kantschen Philosophie - als einer Ethik der Pflicht des Einzelnen gegenüber der Gemeinschaft und damit gegenüber dem Staat - im preußisch beherrschten Deutschland und in der entstehenden Industriegesellschaft mag hier ihre Erklärung finden.

 

 - Der Satz bildet das Konzept der modernen Demokratie. Nämlich, die egoistischen Machtansprüche so zu organisieren, dass sie sich gegenseitig in Schach halten.

 

- Eine politische Mechanik. Man spricht ja auch unter Berufung auf Adam Smith vom Mechanismus des Marktes.

 

- Das dürfte dazu führen, dass diejenigen sich durchsetzen, die ihr Machtstreben am besten als Mechanik zu tarnen wissen.

 

- Sofern eine Gesellschaft sich tatsächlich auf diese Regel beruft und nicht noch auf etwas anderes, führt es zur Diktatur des Sachzwangs.

 

- Zur Diktatur derer, die es verstehen, sich des Sachzwangs zu bedienen.

 

 - Reinhold Gehlen, der im NS-Staat die Leitung der Ostspionage innehatte und der nach dem Krieg, unter der Protektion der USA, den deutschen Bundesnachrichtendienst gründete, hat das einst schlüssig formuliert. In einem Schreiben, einige Jahre nach dem Zusammenbruch, als die künftige Bundesregierung noch dabei war, sich zu formieren, resümierte er, nach Nazi-Diktatur und Kaiserreich und den damit verbundenen Katastrophen, seien dem Volk künftig politische Entscheidungen nicht mehr über die Autorität von Personen zu vermitteln, da das Vertrauen der Menschen zu jeglicher Form personaler Autorität unwiderruflich dahin sei. Regierungsmaßnahmen könnten so nicht mehr begründet werden. Daher sei es angeraten, sie als Sachzwang darzustellen.

 

- An dieser Devise scheint der Satz der Bundeskanzlerin Merkel orientiert zu sein, in dem sie die Regierungspläne einst für alternativlos  erklärte.

 

 - Gehlen bedient sich offenbar Hegels Definition, nach der die Freiheit die Einsicht in die Notwendigkeit sei. Trotz der Differenzen ganz im Sinne Kants. Beide stellten das theoretische Rüstzeug des Preußenstaats und seines Leitsatzes von der Staatspflicht als der höchsten Tugend. 

 

- Kants Denkfehler ist systemisch bedingt: Befürworter eines Gemeinschaftszwangs sind meist auch Befürworter der Todesstrafe. Es ist das im Gemeinschaftszwang Verdrängte, das Opfer verlangt - dies ist das eigentliche Motiv der Todesstrafe.

Sie steht jedenfalls im Widerspruch zum Gedanken der Demokratie. In ihrem essentiellen Sinne schließt Demokratie eine Verhängung der Todesstrafe aus.

 

- Warum sollte die Verhängung der Todesstrafe undemokratisch sein? Die USA sind eine Demokratie, eigentlich die erste moderne Demokratie, und lassen die Todesstrafe zu.

 

-  Die USA sind noch nicht sehr lange eine Demokratie.

 

- Sagt man nicht, die Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika 1789 sei das Vorbild für die modernen demokratischen Staatswesen?

 

- Gehört zu einer Demokratie nicht, dass die Bevölkerung die Regierung wählt, ein jeder gleichermaßen stimmberechtigt?

 

- Ja, genau das wurde ja in der amerikanischen Verfassung festgelegt.

 

- Es galt nur nicht für die Indianer und die Sklaven. Zunächst auch nicht für die Frauen und Besitzlosen. Diese waren nicht wahlberechtigt. Wenn nur bestimmte Schichten der Bevölkerung wählen dürfen, kann man nicht von Demokratie sprechen.

 

- Kinderkrankheiten. Das wurde überwunden. Heute dürfen in den USA alle Staatsbürger wählen.

 

- Noch nicht sehr lange. Präzise betrachtet sind die USA erst seit 1965 eine Demokratie zu nennen, weil erst von da an, aufgrund des sogenannten Voting Rights Act von 1965, die Wahlrechtsbeschränkungen aufgehoben wurden. Erst dann waren tatsächlich alle Schichten zur Wahl zugelassen. Zuvor waren Teile der Bevölkerung in ihrem Wahlrecht behindert oder von der Wahl ausgeschlossen. In etlichen Bundesstaaten mussten Farbige einen Analphabetentest bestehen, um wählen zu dürfen. So kam es, dass die Bevölkerungsmehrheit ganzer Stadtviertel oder Regionen kein Wahlrecht erhielt.

Solange ein Staat einen Teil seiner Bevölkerung von der Wahl ausschließt, kann er doch nicht demokratisch genannt werden, sondern allenfalls als moderner Ständestaat bezeichnet werden. 

 

- Alles in allem sind und bleiben die USA in ihrer grundlegenden Ausrichtung ein moderner Rechtsstaat.

 

- Sind Sie sicher? Während der Bush-Regierung wurde von höchster Regierungstelle die Folter durch Wasserübergießen erlaubt, indem man sie kurzerhand nicht als Folter, sondern als erweiterte Verhörmethode bezeichnete. Dem Delinquenten wird dabei mit nach hinten gezogenem, in der Horizontalen gehaltenen Kopf permanent Wasser über das Gesicht gegossen, so dass er nicht mehr atmen kann und das Gefühl hat zu ertrinken.  Gibt Ihnen das nicht zu denken? 

 

- Schon. Aber warum sollte nicht derjenige, der das Leben anderer in den Händen hält, indem er etwa eine lebensrettende Information zurückhält, durch gewisse Unannehmlichkeiten oder durch Schmerz dazu gezwungen werden dürfen, diese lebensrettende Information preiszugeben? Im Prinzip wäre das doch der Notwehr bzw. Nothilfe vergleichbar.

 

- Wäre es nicht. Die Unmittelbarkeit ist nicht gegeben.

 

- Aber im Falle des Bombenlegers, der den Entschärfungscode nicht preisgibt, hätte man keine andere Möglichkeit, um Leben zu retten.

 

- Dieser Fall ist konstruiert und tatsächlich in der Praxis noch nie vorgekommen. Es handelt sich um ein  Beispiel, das nur Folter-Befürworter anführen. Die Realität sieht anders aus. Wo gefoltert wurde oder wird, benutzt man Folter zur Ermittlung. Hauptsächlich aber um Terror auszuüben, um Angst zu erzeugen. Ermittlungstechnisch ist Folter bekanntermaßen wenig effektiv. Die Ergebnisse sind aus nachvollziehbaren Gründen nicht verlässlich. 

 

- Da wir uns aber einen solchen Fall vorstellen können, ist es ja immerhin möglich und angesichts des internationalen Terrorismus vielleicht zunehmend wahrscheinlich. Wenn in der BRD schon darüber diskutiert wird,  ob man die Ermittlungsergebnisse ausländischer Geheimdienste auch dann verwenden soll, wenn diese durch Folter erpresst sind, so besteht doch offenkundig eine entsprechende akute Situation.

 

- Sie sagen es selbst: Es geht um Ermittlungsergebnisse. Der Fall der von Ihnen beschriebenen Gefahrenabwehr durch das Erzwingen der Preisgabe eines Entschärfungscodes ist also gar nicht mehr gegeben. Es geht also hier um eine ganz lapidare Praxis von Folterverhören.

 

- Indirekt ist die Gefahrenabwehr gegeben. Diese Verhöre führen zu Erkenntnissen, die Attentate verhindern.

 

- Wie Sie sehen: Es wird immer indirekter. Wenn Sie einmal damit beginnen, einen legitimen Grund für Folter zu postulieren. Wo soll die Grenze sein? Wer will sie festlegen und wer wird sie beachten?

Allein schon weil sich die Frage stellt, wo die Grenze zu ziehen ist, wird deutlich, dass damit im Prinzip etwas nicht stimmt. 

Ähnlich wie im Falle des Mörders, der  also die Menschenwürde nicht achtet, dies für eine Rechtsprechung als übergeordnete Hüterin  der Regeln, die der Menschenwürde verpflichtet sind, kein Anlass sein kann, ebenfalls die Menschenwürde nicht zu achten, kann auch im Falle dessen, der menschenverachtend lebensrettende Informationen nicht preisgibt, dies kein Anlass sein, ebenfalls die Menschenwürde zu missachten. Dieser Mensch hat sich selber zum Zweck gemacht. Die Hüter des Rechts würden es ihm, sofern sie foltern, gleichtun und ihn ebenfalls zu einem Zweck der Informationsbeschaffung machen.

 

- Dann missachtet man eben die Menschenwürde eines Einzelnen und rettet damit das Leben von Tausenden. Man muss auch abwägen können. 

 

- Hierarchien kann man abwägen, die Würde des Menschen kann nicht abgewogen werden. 

Insofern erscheint es folgerichtig, dass in den USA, in einer Gesellschaft, die sich des Pragmatismus rühmt, unter der Bush-Regierung die Folter legitimiert wurde.

 

- Wenn Sie es so sehen wollen, ist es auch unwürdig, jemanden einzusperren. Auch hier ist offensichtlich eine Graduierung angelegt: Körperliche Misshandlung bzw. körperliche Geständniserpressung, sprich Folter und Körperstrafen, sind verboten, die Einschränkung der körperlichen Bewegungsfreiheit aber ist als Strafmaßnahme üblich.

 

- Körperstrafen und Folter wurden bei der Deklaration der Menschenrechte als Menschenrechtsverletzung definiert.

 

- Aus welchem Grund zog man hier eine Grenze?

 

- Möglicherweise weil Körperstrafen lebenslange Folgen haben konnten. Ganz ohne Zweifel aber geschieht dabei eine Gewalt, die intimer ist als die einer bloßen Gefangennahme. Der Unterschied liegt darin, dass der Wille des Delinquenten gebrochen werden soll, er zu einem Geständnis gebracht werden soll.

Es ist die Intimität der Gewalt, die für ein der Menschenwürde verpflichtetes Gemeinwesen beschämend ist. 

Der entscheidende und wesentliche Grund ist: Die Verhängung von Körperstrafen bedeutet Leibeigenschaft. Es bedeutet, dass Ihr Körper einem anderen gehört, der in existenzieller Weise darüber verfügen kann. Es bedeutet, dass Sie nicht sich selbst gehören. Insofern lässt die Verhängung von Körperstrafen auf einen Ständestaat mit abgestufter Wertschätzung und entsprechend gradueller Freiheit seiner Individuen schließen.

 

- Mir ist nicht klar, warum dies nicht auch für die Strafe des Eingesperrtseins gelten soll. Schließlich betrifft die Behinderung meiner körperlichen Bewegungsfreiheit auch meinen Körper. Wenn man mich einsperren kann und hierhin oder dorthin bringen kann, ohne dass ich es will, so ist das doch auch eine Verfügung über meinen Körper, die ich an meinem Körper erfahre.

 

- Sie erfahren sie nicht an Ihrem Körper, sondern nur durch Ihren Körper, nämlich indem Ihre Bewegungsfreiheit beschränkt ist. Ihr Handeln ist betroffen. Ein Teil Ihrer Handlungsmöglichkeit wird Ihnen genommen, zeitweise. Da Ihr Vergehen eine Handlung war, soll sich die Strafe wohl auf die Freiheit des Handelns auswirken. 

 

- Auch hier kann man keine klare qualitative Grenze ziehen. Was ist beispielsweise, wenn jemand in eine sehr enge Zelle gesperrt wird, eine, in der er womöglich nicht aufrecht stehen kann, was ja durchaus als Foltermethode praktiziert wurde. Hier ist die Einschränkung der Bewegungsfreiheit gleichbedeutend einer Körperstrafe.

 

- Nicht gleichbedeutend. Diese Art der Einschränkung von Bewegungsfreiheit ist eine Körperstrafe, da sie zum körperlichen Schmerz führt. Es geht auch nicht um die Beschränkung der Bewegungsfreiheit, denn diese kann freilich eine körperliche Beeinträchtigung bedeuten, da körperliche Bewegung zur körperlichen Existenz gehört. Es geht aber um die Einschränkung der Handlungsfreiheit. Dies ist ein Unterschied.

 

- Nehmen wir Japan. Japan ist auch eine Demokratie. Dort gibt es auch die Todesstrafe. In Großbritannien, eine der ältesten Demokratien überhaupt, wurde sie noch bis in die fünfziger Jahre ausgeübt. Wer will sagen, dass Großbritannien damals nicht demokratisch gewesen sei? Die Todesstrafe scheint mir durchaus mit der Demokratie vereinbar. Es ist dann halt eine demokratische Vereinbarung. Wenn jemand getötet hat, so soll er auch mit dem Tode bestraft werden.Wer einem anderen das Leben genommen hat, der hat dadurch das Recht auf Leben verwirkt. 

 

- Wie sieht das im Einzelnen aus? Wer soll denn feststellen, ob einer das Recht auf Leben verwirkt hat?

 

- Der Staat wohl, die Gerichte. 

 

- Von wem erhalten die Gerichte und der Staat die Legitimation, jemandem das Recht auf Leben abzusprechen? 

 

- Von den Menschen, von der Gemeinschaft.

 

- Durch Volksabstimmung sozusagen? Meinen Sie das mit demokratisch?

 

- Auf diese Weise werden bei uns in der Demokratie die Gesetze gemacht und werden mittelbar die Organe der Rechtsprechung bestimmt. Demokratie heißt Volksherrschaft.

 

- Wenn jeder durch Beteiligung an der Abstimmung mitwirken darf, beruht das nicht darauf, dass jedem ein grundlegendes Recht zugesprochen wird, wozu das Recht auf Leben auch gehört,  insgesamt also das, was wir als Menschenwürde bezeichnen?

 

- Ja richtig. Jedem wird diese Würde einschließlich des Rechtes auf Leben zugestanden, es sei denn, er hat einem anderen das Leben genommen. Der soll, so die Aussage, mit dem Tode bestraft werden. 

 

- Worüber dann also wieder letztlich die Gemeinschaft entscheidet. 

 

- Richtig.

 

- Das würde heißen, dass es der Willkür der Gemeinschaft oder ihrer Mehrheit obliegt, einem Menschen das Recht auf Leben abzusprechen: Damit aber widerspricht sie diesem Prinzip des unbedingten Rechtes auf Leben in fundamentaler Weise selbst.

 

- Wieso widerspricht? Wieso Willkür? Es ist wie ein Gesellschaftsvertrag, in dem man bestimmte Statuten festgelegt hat, nach denen der, der einen Mord begeht, sein Recht auf Leben damit verwirkt. Es ist seine Entscheidung. Er muss ja nicht morden; wer in einer Gemeinschaft lebt, nimmt auch ihre Bedingungen an, an denen er ja in gewisser Weise mitwirkt 

 

- Es widerspricht sich grundlegend, weil die Verfügung über das Recht auf Leben selber nicht der Entscheidung der Gemeinschaft obliegen kann, da das Recht des Individuums auf Leben die Voraussetzung ihrer Konstituierung ist. Spricht sie jemandem das Recht auf Leben ab, so hebt sie im Prinzip diese ihre elementare Voraussetzung der Achtung der Menschenwürde des Anderen auf. Daher nennt Martin Buber die Todesstrafe den Selbstmord einer jeden Gemeinschaft. 

 

- Aber es geht hier um einen Mörder, nicht um irgendjemanden.

 

- Ein Mörder ist auch irgendjemand. Es geht um eine Gemeinschaft, die sich das Recht anmaßt, einem Mörder das Recht auf Leben abzusprechen. Und das ist widersprüchlich, da in einem Gemeinwesen, das vorgibt, auf der Achtung vor dem Leben des Individuums zu basieren, diese nicht Bedingungen unterworfen sein kann, weil es diese Achtung damit in grundsätzlicher Weise aufheben würde.

Deswegen nannte Martin Buber auch das Todesurteil gegen Adolf Eichmann, die einzige Todesstrafe, die je von einem israelischen Gericht verhängt wurde, einen Fehler von geschichtlichem Ausmaß. 

 

- Kann man sagen, wenn die Gemeinschaft dieses Recht abspricht, dass dies dann Willkür sei? Kann man das?

 

- Sie fragen rhetorisch. Sie denken vielleicht, Demokratie bestehe primär darin, politische Entscheidungen zu treffen, die von der Mehrheit gebildet werden. 

 

- In der Tat denke ich das.

 

- Tatsächlich ist dies nur das sekundäre Prinzip einer demokratischen Gesellschaft. Sekundär, weil es eine Folgerung ist aus dem grundlegenden Respekt vor der Würde des Einzelnen. Aus der Beziehung der Einzelnen, die sich gegenseitig und die generell, nämlich jedem Menschen, diese Würde zuerkennen, wird das liberale Gemeinwesen erst gebildet. Es ist die entscheidende Voraussetzung.

Daraus erst ergeben sich die Verrichtungen der Gemeinschaftsbildung, zu denen die Abstimmung mit der Mehrheitsentscheidung gehört. 

 

- Aber die Mehrheitsentscheidung ist eine grundlegende Funktion der demokratischen Gesellschaft.

 

- Aber in ihr erschöpft sich nicht der Sinn der Demokratie. Die Griechen unterschieden die Demokratie von der Ochlokratie, der Herrschaft der Menge.

Die Mehrheitsentscheidung allein ist nicht ausschlaggebend, da sie ihre eigene Voraussetzung negieren könnte. 

 

- Mehrheitsprinzip ist nicht gleich Demokratie?

 

- Die Mehrheitsentscheidung beruht auf der Achtung vor der Würde des Individuums. Sie leitet sich von ihr ab und diese ist ihr vorausgesetzt. Daher kann sie nicht die Würde eines oder mehrerer Individuen absprechen, da sie sich dann in ihrer ethischen Basis aufhebt.

 

- Nun gut, das ist einzusehen. Das Mehrheitsprinzip kann nicht alleiniges Legitmationsprinzip sein. Aber es gibt auch noch das Naturrecht. Und demnach liegt es in der Logik der Sache, dass einer der gemordet hat, auch den Tod verdient.

 

- Sie meinen, er verdient auch ermordet zu werden?

 

- Nicht ermordet! Bestraft mit dem Tode durch ein Urteil.

 

- Wenn Sie von der Logik der Sache sprechen, dann meinen Sie, dass hier eine Tat eins zu eins vergolten werden soll. Und das soll heißen: Ein Mord wird durch einen Mord gesühnt. Das wäre dann nicht demokratische Rechtsprechung, sondern das Racheprinzip, das in sippenrechtlichen Kulturen zur Anwendung kommt.

Wer das will, soll es von mir aus betreiben, nur soll er nicht, gut versorgt mit Sozial- und Rentenversicherung, den Staat oder die Gemeinschaft zur Vertretung seiner Mordgelüste vorschieben. 

Soll er sich halt eine Waffe nehmen und losziehen. Dann hätten wir hierzulande eine  Sippenrache-Justiz wie sie in Europa noch in den skypetarischen Bergen existieren mag. Sollen sie in die albanischen Berge gehen. Garantiert würden diese gut rentenversicherten Todesstrafenbefürworter dort am ehesten die Hosen voll haben.

 

- Sie irren sich. Das Talionsprinzip, der Vergeltungsgedanke, etwa in der antiken Rechtsprechung, ist nicht mit der Sippenrache zu vergleichen. Diese geht nämlich über den Vergeltungsgedanken hinaus, nach dem Gleiches nur mit Gleichem vergolten werden soll. Das biblische Auge um Auge, Zahn um Zahn ist also keineswegs eine verschärfte Rechtsprechung in seiner Zeit, sondern im Gegenteil; es stellt eine Eindämmung der Sippenrache dar, indem es ein Maß angibt und eine allgemein verbindliche Rechtsprechung einführt.

 

- Sie haben Recht. Das Talionsprinzip ist nicht gleichbedeutend mit der Sippenrache. Allerdings geht es bei Ihrem Bibelzitat auch nicht darum, dass im engen Sinne Gleiches mit Gleichem vergolten werden soll.

 

- Nicht?

 

- Es heißt in den mosaischen Gesetzen nicht Auge um Auge... sondern im Wortlaut Gib Leben um Leben, Auge um Auge… Damit hat die Weisung einen ganz anderen Sinn als gemeinhin wiedergegeben. Sie richtet sich nicht an den Geschädigten, der für sein verlorenes Auge nun das Auge des Verursachers fordern soll, noch an das Gericht, sondern an den Verursacher, den Schaden auszugleichen. Dass die Weisung an ihn damit nicht wörtlich zu verstehen ist, sich ebenfalls ein Auge auszureißen, um es dem Geschädigten zu geben, der davon ja gar nichts hätte, vielmehr hierbei ein Ausgleich gemeint ist, versteht sich von selber. 

 

- Das trifft nur teilweise zu. Diese Weisung ergeht mehrere Male in den Fünf Büchern Mose. Nur einmal, beim ersten Mal, heißt es Gib Leben um Leben, Auge um Auge…  und zwar im 2. Buch Moses, Kapitel 21, Vers 23 und 24. Allein hier scheint der Schadensverursacher angesprochen. Was aber ist an einer anderen Stelle, etwa  3 Mose, 24, Vers 19 bis 20 gemeint? 

Dort heißt es ausdrücklich Wenn jemand seinem Nächsten eine Verletzung beigebracht hat, so geschehe ihm: Bruch um Bruch, Auge um Auge, Zahn um Zahn; wie er einem Menschen eine Verletzung beigebracht hat, so werde ihm beigebracht. Hier ist doch eine übergeordnete Instanz der Gerichtsbarkeit angesprochen, so geschehe ihm.  Und es ist sogar deutlich artikuliert, dass Gleiches durch Gleiches vergolten werden soll.

 

- Eigentlich nicht. Mit dem ersten und einen Mal des vollständigen Wortlauts des Satzes war klargestellt, dass bei allen weiteren Nennungen ein Gib Leben um Leben, Auge um Auge… gemeint war. Jeder wusste das.

 

- Wie das?

 

- Indem es in grundsätzlicher Weise den Sinn der Weisung herausstellt und damit den Kontext schafft. 

Auch die Historie ist hier eindeutig, da zu keiner Zeit eine biblische oder rabbinische Gerichtsbarkeit existierte, die bei der Schädigung eines Auges das Auge des Schädigers eingefordert hätte.

Tatsächlich geht es immer um eine verhältnismäßige Entschädigung. Im hebräischen Urtext heißt es tachat und das bedeutet in diesem Fall anstatt oder anstelle von.  Das tachat ist ein durchgehendes Prinzip, wenn es um Unfälle oder Schädigungen geht in der biblischen Rechtsprechung.

 

- Wie auch immer. Zwei Zeilen zuvor heißt es So jemand irgend einen Menschen erschlägt, sterbe er des Todes. An anderer Stelle: Wer Blut des Menschen vergießt, durch den Menschen werde vergossen sein Blut 1. Moses 9,6. Das sind klassische Quellen für die Todesstrafe. Sie werden nicht widerlegen können, dass in den mosaischen Gesetzen jedenfalls etliche Vergehen als todeswürdige Verbrechen aufgelistet sind. 

 

- Die Aussagen sind freilich zu allen Seiten hin anwendbar. Auch gegenüber Richter und Henker wären sie letztlich gültig.

Was nun den bekannten Satz in 1. Moses 9 ,6 betrifft, so sind auch andere Auslegungen möglich.

Schofech dam haAdam,  baAdam damo jeschafech - Wer vergießt Blut des Menschen, durch den Menschen sein Blut werde vergossen,  würde eine wörtliche, der Satzstellung entsprechende Übertragung lauten.

 

- Und welche andere Auslegung kommt infrage?

 

 Das Komma ist bereits eine Auslegung. Im Urtext gibt es keines. Eine bekannte talmudische Ableitung setzt es nun an anderer Stelle, nicht vor, sondern hinter baAdam. Das Präfix ba würde dann nicht mehr durch den Menschen, sondern in einem Menschen bedeuten. Der Satz lautet dann: 

Wer vergießt Blut des Menschen in einem Menschen, sein Blut werde vergossen.

 

- Ein Mensch in einem Menschen?

 

- Die Aussage wird auf das ungeborene Kind bezogen und gilt als das Verbot der Abtreibung.

 

- Das widerspricht nicht der anderen Auslegung. Im Gegenteil: Es zählt noch die Tötung des ungeborenen Kindes dazu.

 

- Das stimmt. Es stellt jedoch das Bedeutungsspektrum des Präfix ba heraus. Es kann zwar durch oder an/am oder bei  besagen. Die häufigste Bedeutung ist jedoch tatsächlich in oder im.

Damit kann baAdam  als im Menschen auch so verstanden werden, dass, wenn einer das Blut eines Menschen vergiesst, er damit in sich selber, im Menschen, etwas tötet. 

 ...haAdam, baAdam.... Wer vergießt das Blut des Menschen,  im Menschen wird sein Blut vergossen.

Eine Gegenüberstellung. Vermutlich hatte Martin Buber dies im Sinne, wenn er die Todesstrafe als partiellen Selbstmord bezeichnet: Wer einen anderen tötet, tötet etwas in sich selber. Er hat sein Ich-Du verloren. Im Sinne der Münchner Rhythmenlehre seinen Uranus, seinen Ursprung.

 

Dessen ungeachtet wird die Argumentation zugunsten der Todesstrafe von ihren Befürworten des Öfteren mit bestimmten Bibelstellen aus den mosaischen Gesetzen begründet, in denen, nach deren Auslegung, bei einigen Vergehen von der Tötung des Täters die Rede sei.

 

- Allerdings. Das ist nicht zu leugnen.

 

- Dazu muss generell in Betracht gezogen werden, dass die verschiedenen Texte der Heiligen Schrift unterschiedlich zu gewichten sind – hinsichtlich ihrer Bedeutung und im Verhältnis zu anderen Stellen. So gilt  nach orthodoxer Tradition die Thora als dem Mose von Gott unmittelbar geoffenbart, gewissermaßen diktiert, während die übrigen Verfasser als vom Geiste Gottes erfüllt und ihre Schriften dementsprechend als inspirierte Offenbarungen angesehen werden. 

 

- Gut, die Schrift ist kein homogener Block. Aber Sie sagen selbst, dass den mosaischen Weisungen eine hervorgehobene Stellung zukommt, da sie als unmittelbare Offenbarung gelten.

 

- Auch dazu existieren unterschiedliche Sichtweisen. Innerhalb der Gesetze der Thora kommt wiederum den mit den Zehn Geboten beschriebenen Steintafeln, die Moses von Gott auf dem Sinai erhielt, eine hervorgehobene Position zu. Sie stehen vor allen anderen Weisungen.

Diese Zehn Gebote können als die essentielle Weisung der biblischen Ethik gelten, von Gott dem Mose übergeben und allen anderen Geboten und Regeln der Thora vorangestellt. 

 

- Im Hinblick auf die mosaischen Gesetze zu todeswürdigen Verbrechen wären diese also durch das fünfte Gebot des Dekalogs, meist übersetzt mit  Du sollst nicht töten, relativiert?

 

- Du sollst nicht töten ist keine einwandfreie Übersetzung des  hebräischen Lo tirzach.

Als korrekte Übertragung gilt hier das Verb morden. Das fünfte Gebot des Dekalogs lautet demnach: Morde nicht! (Buber/Rosenzweig) 

 

- Kann man die Vollstreckung eines Todesurteils morden nennen?  Doch nur in der Polemik wird das Wort in diesem Zusammenhang angewendet.

 

- Wie man's nimmt. Von Verfechtern der Todesstrafe wird dieser Unterschied gerne geltend gemacht, da die staatlich betriebene Hinrichtung zwar von einem Verbot des Tötens betroffen wäre, nach dem sprachlichen Konsens aber nicht als Mord bezeichnet wird. 

Es bleibt aber: Das Verb töten als das Handeln eines Menschen an einem anderen Menschen bezeichnet  einen spezifischen Akt, der sich etwa vom Töten eines Tieres unterscheidet. Einen Menschen in Absicht töten, heißt, ihn ermorden!

 

- Sie meinen, dies betrifft jegliche beabsichtigte Tötung? Auch die, welche der Staat ausführt?

 

- Aufgrund der erklärten institutionalisierten Absicht und der damit verbundenen Grausamkeit sogar noch weit mehr. 

 

- Auskunft darüber, welches die gemäße Interpretation des hebräischen Urtextes ist, müsste doch die Handhabung der Rechtsprechung im Judentum sein. Wie ging man mit dem Tötungsverbot der Zehn Gebote um?

 

- Ein Blick auf das Verhältnis des spätantiken Judentums zur Verhängung der Todesstrafe lässt eine kaum vergleichbare Zurückhaltung gegenüber der Todesstrafe erkennen, die schließlich im 4. Jahrhundert auf eine generelle Vermeidung hinauslief.  

So brauchte man siebzig Richter, um einen Menschen zum Tode verurteilen zu können. Es bedurfte zweier Zeugen seiner Tat. In der Gemara heißt es: Ein Gericht, das in siebzig Jahren nur einen einzigen Menschen zum Tode verurteilt, wird ein blutrünstiges Gericht genannt.

Zwar räumte man grundsätzlich die Möglichkeit eines göttlichen Richterspruches ein, jedoch billigte man keinem menschlichen Richter Unfehlbarkeit zu.

 

- Aber theoretisch räumte man der Todesstrafe eine Berechtigung ein?

 

 - Da man sich dieser Berechtigung niemals sicher sein konnte, war sie praktisch aufgehoben.

Wesentlich ist jedoch, die rabbinische Anschauung, nach der die Formulierung so geschehe ihm… nicht als Richtlinie für die Justiz auszulegen ist, sondern als  Passivum divinum, als eine Angelegenheit göttlicher Fügung. Dass es sich dabei nicht um eine strittige These, sondern durchaus um einen Konsens handelt, bezeugt eine Stelle im Buch der Jubiläen, einer  hebräischen, apokryphen Schrift aus dem 2. Jahrhundert v. Chr. Dort wird Kain, der seinen Bruder Adam mit einem Stein erschlagen hatte, am Ende seines Lebens ebenfalls durch einen Stein erschlagen, jedoch nicht durch Menschenhand: sein Haus fiel auf ihn und er starb mitten in seinem Haus und ward durch dessen Steine getötet. Denn mit einem Stein tötete er den Abel, und mit einem Stein ward er nach gerechtem Gericht getötet. Jubiläen 31 

Hier ist der Hinweis , dass es nicht dem Menschen obliegt, Todesurteile zu vollziehen,  unmissverständlich.

 

 

- In anderen Gesellschaften war man anderer Ansicht.

 

- Sofern es um die Interpretation eines hebräischen Gebots aus dem Dekalog geht, sollte man den Hebräern schon eine gewisse Kompetenz einräumen, den Geist und die sprachliche Bedeutung zu erfassen.

Du sollst nicht töten / morden.

Und die Tatsache, dass die Todesstrafe in der jüdischen Ethik schon im vierten Jahrhundert geächtet wurde, zeugt für sich. 

 

(c) Herbert Antonius Weiler 2016