Vielheiten sind rhizomatisch ...
Keine Einheit, die im Objekt als Stütze fungiert oder sich im Subjekt teilt.
Eine Vielheit hat weder Subjekt noch Objekt;
Sie wird ausschließlich durch Determinierungen, Größen und Dimensionen definiert, ...
Der Baum und die Wurzel zeichnen ein trauriges Bild des Denkens,
unaufhörlich, ausgehend von einer höheren Einheit...
Hydren und Medusen können wir nicht entkommen
aus: Rhizom, Gilles Deleuze und Félix Guattari
Identität und Pfingsten
- Der Poststrukturalismus hat versucht, den Begriff der Identität zu dekonstruieren. Nichts sollte mehr für sich stehen, das Leben ein Rhizom, ein Geflecht, ohne Anfang, ohne Ende, ausschließlich determiniert, stetig von allem abzweigend und zuführend. Geistiges Eigentum, Urheberschaft, Authentizität, Anfang und Ende, Identität sollen Illusionen sein.
- Einer der Widersprüche besteht darin, dass anhand der Annahme unendlicher Determination die Dekonstruktion der Determination begründet wird.
- Ein Entwurf des Internets, etliche Jahre bevor es entstand.
- Mit den Schlagworten einer sozialen, nationalen, sexuellen oder kulturellen Identität gleichwie des Identitären, entsprechend der Verwechslung von Identität und Identifikation, wird das Wort noch weiter in seiner Bedeutung neutralisiert.
- Der Begriff der Identität kann sich nur auf das Individuum beziehen. Gleich dem der Freiheit. Die Freiheit und Identität eines Volkes oder einer Nation gibt es nicht. Ein Volk kann nicht frei sein, wenn seine Individuen nicht frei sind. Die Freiheit eines Volkes ist die seiner Individuen. Und die Identität eines Volkes ist die der Individuen.
Wenn die Identität der Individuen, das Dasein des Einzelnen, nicht zugelassen ist, so verbirgt sich hinter dem Begriff der kulturellen oder nationalen Identität der Zwang einer kollektiven Vorstellung.
- Identität ist weder über Zugehörigkeit noch über Eigenschaften definierbar. Nur in der Bewegung, in der Verausgabung erweist sie sich.
- Der Dornbusch, der brennt und nicht verbrennt. Sie ist keine Eigenschaft, sondern die Quelle der Eigenschaften. Kein So-Sein, sondern die Quelle des So-Seins.
- Der Versuch, Identität zu definieren oder durch Identifikation zu bilden, bezeugt bereits ihren Verlust. Daher ist der Begriff der Leitkultur ein Widerspruch in sich.
- Identität bedeutet ein eigener Anfang (Guardini). Aus dem Nichts. Damit die Identität des Gewachsenen. Sie erkennt die Gestalten und wird von ihnen erkannt.
- Heraklit sagt: Wer in denselben Fluss steigt, dem fließt anderes und wieder anderes Wasser zu. Und: In dieselben Flüsse steigen wir und steigen wir nicht; wir sind es und wir sind es nicht.
Der Satz des Heraklit erfasst das Identische der Identität: Nur der, welcher der Selbe ist, kann sagen, dass jetzt andere Fluten strömen als zuvor.
- Identität, vom lateinischen idem – dasselbe - bedeutet, dass es sich selbst das Selbe ist. (Heidegger)
- Die Stetigkeit des Selben in der Identität führte in der griechischen Philosophie zu dem Begriff der ousia – οὐσία, das Wesen oder das Wesentliche.
Im Lateinischen wurde es zur essentia, abgeleitet von esse – sein. Die Istheit.
Im Deutschen wurde es sowohl zu dem Verb ist als auch zuWesen, das dem griechischen ousia lautlich nahe steht.
- Identität entsteht im Zeichen Wassermann, aus dem Zeichen Fische kommend, dem Nichts. In der gegenläufigen Bewegung, im Zeichen Stier, wird sie Erscheinung. Die Erscheinung der Beständigkeit des Selben.
- Warum artikuliert Heidegger die Identität als sich selbst das Selbe und nicht einfach das Selbe?
- Weil es andernfalls nur die Identifizierbarkeit von Eigenschaften wäre, sich selbst das Selbe aber benennt das Subjekt der Eigenschaften. Den Menschen. Daher wird der Wassermann in der Viergestalt neben Löwe, Stier und Adler als Mensch oder Engel dargestellt. Im Wassermann entsteht die Polarität von Ich und Du. Das Angesicht. Die Bilder der Wassermann-Maler zeugen davon. Sie zeigen immer wieder das Antlitz, das Gesicht, das einen aus dem Bild heraus anschaut.
- Das Steigen in den Fluss wird bei Heraklit mit dem Erlebnis der Gegenwart gleichgesetzt: Das Jetzt ist - aber es ist nicht fest-zu-stellen. Aus diesem Paradoxon ergibt sich die Identität des Erlebenden als eine stetige.
- In diesem Sinne erscheint das Bild des Flusses dem des brennenden Dornbusches entsprechend, der brennt und nicht verbrennt. Die Identität als das wesende, jedoch nicht feststellbare, nicht habhaft zu machende Sein der Person.
- Thomas von Aquin nennt Christus das ewige Nun.
- Es war das jüdische Wochenfest, Schawuot, zu dem sich die Apostel versammelt hatten, als der Heilige Geist ihnen, wie die Apostelgeschichte berichtet, in Gestalt von Zungen wie von Feuer erschien, die sich verteilten - und auf jeden von ihnen ließ sich eine nieder.
An Schawuot, wurde der Empfang der Zehn Gebote am Sinai gefeiert. Ein Prozess der Individuation. Nach der Bedeutung des Ereignisses in der jüdischen Tradition war damit von nun an jeder Einzelne persönlich durch Gott angesprochen. Er tritt mit dieser Ansprache heraus aus der Gefangenschaft des Kollektivs, der Dienstbarkeit, in der er nur als Funktion der Gemeinschaft begriffen wird. Damit erst vollzog sich der Auszug aus der ägyptischen Gefangenschaft seelisch.
- Schawuot wird fünfzig Tage nach Pessach, dem Fest des Auszugs aus Ägypten gefeiert. Das Wort Pfingsten kommt von griechisch pentecoste - fünfzig. Die Zahl Fünfzig wird in der hebräischen Zahlenschrift als Buchstabe Nun - נ - geschrieben. Nun bedeutet Fisch. Es ist die Zahl des neuen Anfangs. siehe Von den Hundertdreiundfünfzig Fischen>>
So kam es, gemäß der Thora, nach einer Periode von 49 Jahren im fünfzigsten Jahre, dem sogenannten Jobeljahre - schanat hajobel, zu einem allgemeinen Neuanfang des Wirtschaftslebens. Die Wendung Einmal alle Jubeljahre geht darauf zurück.
Der Mensch sollte im Jobeljahr von entstandenen Abhängigkeiten frei werden und neu beginnen. Dies sollte mit dem Erlass der Schulden und der Rückgabe aller erworbenen Besitztümer an die ursprünglichen Eigner geschehen.
Die 50, das Nun - der Fisch, als Zahl des Anfangs ist verbunden mit der Individuation. Romano Guardini definiert das Person-Sein des Menschen durch den eigenen Anfang.
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Als der Pfingsttag gekommen war, befanden sich alle am gleichen Ort. Da kam plötzlich vom Himmel her ein Brausen, wie wenn ein heftiger Sturm daherfährt, und erfüllte das ganze Haus, in dem sie waren. Und es erschienen ihnen Zungen wie von Feuer, die sich verteilten; Auf jeden von ihnen ließ sich eine nieder. Alle wurden mit dem Heiligen Geist erfüllt und begannen, in fremden Sprachen zu reden, wie es der Geist ihnen eingab. Apg 2,1–4
Das Fest des Auszugs aus der ägyptischen Gefangenschaft, das Pessach, dem fünfzig Tage später das Fest Schawuot folgt, richtet sich nach dem ersten Vollmond im Frühling, nachdem die Sonne in das Zeichen Widder getreten ist. Fünfzig Tage zuvor befindet sie sich im Zeichen Wassermann, fünfzig Tage danach im Zeichen Zwillinge.
Der Anlass des Auszugs wird in der Geschichte vom Brennenden Dornbusch geschildert, aus dem heraus Gott zu Moses spricht.
Die ägyptische Gefangenschaft, Saturn-Pluto Münchner Rhythmenlehre, wird im Brennenden Dornbusch zu Saturn-Mars.
Indem der Dornbusch brennt, aber nicht verbrennt, kommt das Feuer aus dem Neptun, aus dem Nichts. Wie die Identität, das Ich, als dessen Prinzip sich Gott gegenüber dem Moses zu erkennen gibt: Ich bin der Ich bin.
- Hiervon leitet sich Heideggers Wendung sich selbst das Selbe ab.
- Es ist das Feuer des Brennenden Dornbuschs, welches sich an Pfingsten auf die Apostel niedersenkt.
Erst damit konnte sich der Einzelne als eigenes Zentrum, als König seines Lebens begreifen. Erst nach der Begegnung mit dem, der aus dem Brennenden Dornbusch heraus zu Moses sprach, konnte der Konflikt erlebt werden, der schließlich zum Auszug aus der Gefangenschaft führt.
Im Unterschied zur kollektivistischen Gesellschaft in Ägypten, die von einem als göttlich verstandenen Priesterkönig bestimmt wurde, sollte von nun an jeder ein Priester sein, das heißt in einer eigenen Beziehung zum Himmel stehen: Und ihr sollt mir ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk sein Ex. 19,6 .
Vom Volk der Israeliten sollte der Impuls ausgehen, dass der Mensch künftig nicht mehr durch die Zugehörigkeit zu einem Volk bestimmt sei.
Es sagt uns der Schreiber des Evangeliums Johanni selber, dass Moses vorherverkündet hat den Christus Jesus, und der Evangelist lässt ihn gerade auf jene Stellen hinweisen, wo im brennenden Dornbusch und später im Feuer auf Sinai sich die Macht ankündigt, die später der Christus genannt worden ist. Keine andere Gottheit soll vorgestellt werden als der Christus in dem, der zu Moses von sich selbst spricht: "Ich bin der Ich-bin". Rudolf Steiner
- Der Prophet Jeremia artikulierte später den essentiellen Anarchismus in der Rede Gottes und die Unabhängigkeit von äußerer Maßgabe:
Ich werde meine Lehre in ihr Inneres legen und auf ihr Herz werde ich sie schreiben. .. Dann wird nicht mehr einer seinen Nächsten oder einer seinen Bruder lehren und sagen: Erkenne den Ewigen! Denn sie alle werden mich erkennen von ihrem Kleinsten bis zu ihrem Größten.
(Jer. 31,34)
- Pfingsten ist auch eine Einlösung des Versprechens bei Jeremias.
- So auch der in der orthodoxen Kirche sehr geschätzte Gregor von Nyssa , der die Forderung einer autoritätsunabhängigen Erkenntnis und Gottesbegegnung im vierten Jahrundert kategorisch formuliert:
Mehr als alles andere wichtig ist, dass wir keinerlei Notwendigkeit unterworfen und keiner Macht in Hörigkeit untergeben sind; sondern es steht bei uns, zu tun nach eigenem Ratschluss und Belieben. Denn die Tugend ist eine Sache der Freiwilligkeit und keiner Herrschaft untertan. Was aus Zwang und Gewalt erwächst, ist ebendeshalb keine Tugend. (Gregor von Nyssa, de hominis opificio)
- An Pfingsten, als der Heilige Geist in Feuerzungen auf einen jeden Einzelnen herabkam, erhielt jeder Mensch einen eigenen Geist.
Thomas von Aquin widerlegte auf dieser Grundlage später die Ansicht des Averroes, nach der der Mensch keinen eigenen Geist habe, sondern nur Anteil an einem Gemeinschaftsgeist, den er dem Mond zuordnete.
In diesem Sinne stellen Poststrukturalismus und Internet eine Neuauflage des Averroismus dar.
- In der identitär genannten Identifizierung mit der Gemeinschaft wird die Identität des Einzelnen aufgegeben. Daher sind es die Gemeinschaften der Identitätslosen, die zum Nationalismus neigen.
- Identität ist immer die Identität des Individuums. Die des Einzelnen. Nämlich, indem er sich selbst der Selbe ist.
Und das, was er als das Selbe erkennt, sich darin auch das Selbe sein kann.
Im Erkennen des Menschen kann das Wesen der Dinge anwesend werden. In dem ihr die Dinge seht, führt ihr sie zu Gott zurück. Schaut was ihr alle tut, sagt Meister Eckhart.
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(C) Herbert Antonius Weiler 2017
© H e r b e r t A n t o n i u s W e i l e r