Hillel und Kafka
-Bei Kafka gibt es eine Geschichte über einen Torwärter.-
-Stimmt. Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Ein Mann vom Lande will hinein. So beginnt sie. -
-Eigentlich ist es weniger eine Geschichte über den Torwärter, als über den, der darauf wartet, eingelassen zu werden.-
-Er begehrt immer wieder Einlass. Und stets wird er abgewiesen. Jetzt noch nicht, wird ihm ein ums andere Mal vom Türhüter beschieden. Bis zu seinem Tode, da beugt sich der Türhüter zu ihm hin und ruft ihm ins Ohr, das Tor sei nur für ihn gewesen, jetzt werde es geschlossen.-
-Hillels Spruch wäre die Antwort, für den Türhüter gewesen: Wenn nicht jetzt, wann dann! -
-Nicht nur für den Türhüter. Die Losung gilt auch dem Wartenden. Kafka, der sich in den Schriften auskannte, wusste zweifellos von Hillels Aphorismus.-
-Es war auch Kafkas Thema. Er tat eine ähnliche Aussage: Es gibt nur das Ziel, was wir Weg nennen ist Zögern.-
-Was war dann das Versäumnis des Mannes? Was hätte er anderes tun sollen, wenn ihm der Türhüter immer wieder versichert Jetzt noch nicht ?-
-Er hatte das Herz nicht. Hatte nicht den Augenblick. Auch wenn er immer wieder nach Einlass fragte. Er hatte sich in der Abweisung eingerichtet.-
- Sein Warten war ein Aufschieben? -
- Das ist sein Versäumnis.-
- Dann ist es auch die Geschichte des Türhüters. Denn dieser hatte auch gewartet.
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(C) Herbert Antonius Weiler, 2014
Rabbi Hillel
- Rabbi Hillel oder Hillel, der Ältere, war ein Thoralehrer und Philosoph, der zur Zeit Jesu lebte. Geboren wurde er einige Jahre v. Chr. in Babylon, das zu dieser Zeit zum persischen Partherreich gehörte. Er zog später nach Jerusalem, dem eigentlichen Ort seines Wirkens, und begründete dort eine Schule. Noch im Jahre 20 n. Chr. wird er als Patriarch der Jerusalemer Gelehrsamkeit erwähnt. Hillel gilt als eine der wichtigsten Gestalten in der jüdischen Tradition.
- Von Hillel ist überliefert, dass ein am Judentum interessierter Fremder eines Tages an an ihn herantrat, und ihn fragte, ob er ihm die gesamte jüdische Lehre vermitteln könne, während er auf einem Bein stehe.
Zuvor hatte er sich mit diesem Anliegen an einen anderen, an Rabbi Schammai gewandt. Die Lehre des Hillel stand im Gegensatz zur Lehre des Schammai, der eine detaillierte Schriftauslegung und Gesetzesbefolgung predigte. Hillel hingegen ging es darum, den Sinn der Weisungen zu erfassen.
Schammai hatte den Fremden, ob der vermeintlichen Provokation, mit einem Zollstock vertrieben. Hillel aber erklärte sich bereit zu antworten. Als der andere auf einem Bein stand, sagte Hillel zu ihm: "Was dir verhasst ist, das tue auch deinem Nächsten nicht an. Das ist die ganze Thora." (Bab. Tal. Schabbat 31a)
- Inhalt und Hergang dieses Dialogs erinnern an die Stelle im Markus-Evangelium, in der Jesus, auf die gleiche Frage antwortend, die Weisung zur Nächstenliebe als eines der beiden höchsten Gebote hervorhebt. Hier ist es ein Gelehrter, der an Jesus herantritt und ihn nach der wichtigsten Weisung der Heiligen Schrift fragt.
Jesus nennt darauf zwei Stellen aus der Thora, wo gesagt ist: "Du sollst den Ewigen, deinen Gott lieben aus ganzem Herzen, aus ganzer Seele, mit deinem ganzen Verstand und mit all deiner Kraft." (5 Moses, 6:5)
Dies ist das erste Gebot. Und das zweite ist diesem gleich: Du sollst deinen Nächsten liebhaben, denn er ist wie du (Lev.19:18). Kein anderes Gebot ist größer als diese beiden.
Und der Schriftgelehrte sprach zu ihm:
Recht so, Meister! Ganz richtig hast du gesagt: Er allein ist der Ewige und es gibt keinen anderen außer ihm und ihn mit ganzem Herzen, ganzem Verstand und ganzer Kraft zu lieben und den Nächsten zu lieben wie sich selbst, ist weit mehr als alle Brandopfer und anderen Opfer."
Darauf heißt es bei Markus weiter:
"Jesus sah, dass er mit Verständnis geantwortet hatte, und sagte zu ihm: Du bist nicht fern vom Reich Gottes." (Markus 12,29-44)
- Im Unterschied zu anderen Zusammentreffen mit den Pharisäern und Schriftgelehrten verläuft dieses freundschaftlich und es zeigt sich, ähnlich wie im Gespräch mit Nikodemus (Joh. 3,1-21), eine Übereinstimmung und ein Verständnis von Seiten eines Vertreters der jüdischen Gelehrsamkeit.
- Hillel dürfte Jesus jedenfalls gekannt haben, da beide zur etwa gleichen Zeit in Jerusalem wirkten. Und die Vermutung liegt nahe, dass es sich bei dem Fragesteller um ihn handelt.
- Die Schilderung seines Dialogs mit dem am Judentum interessierten Fremden wurde freilich erst zwei bis drei Jahrhunderte später niedergeschrieben. Sie entstammt in dieser Form dem Babylonischen Talmud, der in den Jahren 300 bis 600 n. Chr. vollendet wurde. Dieser relativ späten Überlieferung zufolge war es allerdings nicht die Weisung zur Nächstenliebe, die Hillel dem Fremden vermittelte, sondern die Goldene Regel.
Die Goldene Regel stellt einen universellen Grundsatz dar, der sich auch in vielen anderen Religionen und Kulturen findet. Eine Verhaltensregel, die auf dem Prinzip basiert, sich dem Anderen gegenüber so zu verhalten, wie man selber behandelt werden möchte. Mitunter negativ formuliert, so wie in der Wiedergabe der Aussage des Hillel, nämlich dem anderen nichts antun, was man selber nicht mag, oder positiv: dem anderen angedeihen lassen, was man selber gerne empfangen würde.
So erscheint die Goldene Regel auch einige Male in den Schriften des Alten Testaments, etwa in der Tobit-Geschichte, und auch im Evangelium des Matthäus.
- Der Sinn der Regel bleibt stets gleich und bewegt sich in den Grenzen eines sozial verträglichen, pragmatischen Umkehr-Egoismus. Immanuel Kant griff sie auf und überspitzte sie zum Kategorischen Imperativ, der Forderung, sich stets so zu verhalten, dass die eigenen Handlungen als Maßstab für die Allgemeinheit gelten können. kamochah und katergorischer imperativ >>
Hillel lehrt den Fremden, der auf einem Bein steht
Szene auf der Knesset-Menorah von Benno Elkan,
Photo: Gerd Eichmann, Wikipedia
- Die Goldene Regel richtet sich auf das Verhalten - man kann sie befolgen ohne Öffnung, ohne Erkenntnis des Anderen und ohne je den Bereich des Eigennutzes zu verlassen. Kant meinte "selbst ein Volk von Teufeln" könne, wenn sie vernünftig seien, auf der Basis dieser Maxime sich so benehmen, dass in ihrem öffentlichen Verhalten der Erfolg eben derselbe ist, als ob sie keine solche bösen Gesinnungen hätten.
Dementsprechend propagierte Kant die vernunftgemäße Pflicht als höchste Tugend und nicht etwa die Nächstenliebe oder Neigung, wie er sie nannte. Bekannt ist Schillers Spott über diese Moral: "Gerne helfe ich den Freunden doch tu ich's leider mit Neigung, darum wurmt es mich oft, dass ich nicht tugendhaft bin."
- Anders als die Goldene Regel bezieht sich die Weisung zur Nächstenliebe nicht auf ein Verhalten, sondern auf eine andere Weise des Seins. Eine, die in Beziehung steht, die ein Du erkennt. Die einen Augenblick hat. Die Weisung zur Nächstenliebe geht über den Pragmatismus der Goldenen Regel hinaus. Sie leitet an, den "göttlichen Funken" im Anderen zu erkennen, ihn als Person, als ein Ich "wie Du" zu erkennen.
- Es stellt sich die Frage, ob Hillel tatsächlich, wie in der Jahrhunderte später niedergeschriebenen Darstellung, die Goldene Regel als essentielle Zusammenfassung der Heiligen Schrift hervorhob oder ob seine ursprüngliche Aussage nicht vielmehr identisch ist mit der Weisung zur Nächstenliebe, die Jesus im Evangelium dem Fragenden als höchstes Gebot nannte.
- Zieht man die anderen bekannten überlieferten Aphorismen Hillels heran, so scheint deren Sinn eher dem Inhalt der Weisung zur Nächstenliebe zu entsprechen als dem einer Verhaltensregel. Es ist immer wieder der Augenblick des Erkennens und der Öffnung, des Gegenwärtig-Werdens, den Hillel anspricht: "Wann, wenn nicht jetzt?", "Wenn nicht jetzt, wann dann?", "Wenn nicht ich, wer dann" , "Wenn ich nicht für mich bin, wer dann? Wenn ich aber nur für mich bin, was bin ich?"
- Hillel artikuliert in der Paradoxie die über Regeln und Verhalten nicht fassbare Wirklichkeit der Beziehung. Martin Buber hat in seiner Philosophie den Geist dieser Lehre aufgegriffen, indem er die Essenz des Judentums in der Ich-Du-Beziehung erblickte. Nur wer ein Du hat, kann als Ich anwesend werden. Und nur wer ein Ich hat, kann ein Du erkennen.
Buber unterschied die Ich-Du-Beziehung vom Ich-Es-Verhältnis. Bei Letzerem wird die Anderheit nicht als Gestalt, sondern nur als Es, das heißt, als Gelegenheit, als Umstandslieferant, als Summe von Merkmalen wahrgenommen. In dieser Haltung, in der das Gegenüber annulliert wird, es nur nutznießerisch als Zweck wahrgenommen wird, macht sich das Subjekt in der Zweckbestimmtheit letztlich selber zum Zweck und verschwindet. Das ist der Wurm, der in sich selber kreist, der Leviathan, die Schlange, die sich in den Schwanz beißt, die als Bild in allen Kulturen der Antike auftaucht. Der Leviathan >>
Das meinte Hillel mit der Wendung seiner Aussage "Wenn ich nur für mich bin, was bin ich?"
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Franz Kafka
- Franz Kafka war beeindruckt von der Gegenwärtigkeit des Augenblicks, von der Entscheidung, die in den Sätzen des Hillel aufscheint. Sie war gleichermaßen sein Thema. Von ihm stammt der Satz: "Es gibt nur das Ziel, was wir Weg nennen ist Zögern."
Franz Kafka, 3. Juli 1883, 07:00, Prag
- Der Satz entspricht einem Aufgangszeichen Löwe mit Sonnenstand im Krebs.
Mit einem Aszendenten im Löwen, der Sonne im Krebs in Haus elf, schon ins zwölfte übergehend, und dem Mond im elften Haus ging es ihm um die Unmittelbarkeit des Lebens. Zugleich litt er als Löwe/Krebs darunter, nicht aus dem Ungeschehenen heraus zu kommen, da alle Herrscher des Sommerviertels im vierten Quadranten, noch vor der Zeit, stehen,
- Dies kommt zum Ausdruck mit der Himmelsmitte auf 28° Widder, nach der Münchner Rhythmenlehre ein Punkt, der der Verbindung von Saturn und Neptun entspricht. Einer Konstellation, bei der man die Tür nicht findet, weil der Uranus, die Trennung von Innen und Außen, von Ich und Du zu erlösen ist.
- Zu Kafkas bekanntesten Geschichten gehört etwa diejenige vom Türhüter, der dem Wartenden vor der Tür auf dessen Frage nach Einlass stets antwortet: "Jetzt noch nicht." Immer wieder erhält er diese Antwort. Das Leben des Wartenden geht mit den Jahren darüber zu Ende, nie bekommt er etwas anderes zu hören, schließlich beugt sich der Türhüter zu dem Sterbenden hinab um ihm zu sagen, die Tür sei nur für ihn gewesen und jetzt werde sie geschlossen.
- In einer anderen Geschichte erhält ein Läufer eine Botschaft, der sterbende Kaiser hat sie ihm ins Ohr geflüstert. Und der Bote macht sich auf, die Menge vor des Kaisers Sterbebett mit kräftigen Armen zu teilen und zu durchschreiten, auf seiner Brust das Zeichen der Sonne. Aber wie soll er je aus dem Palast herauskommen, wie je aus der Residenzstadt?
Kafka schreibt: ... die Höfe wären zu durchmessen; und nach den Höfen der zweite umschließende Palast; und wieder Treppen und Höfe; und wieder ein Palast; und so weiter durch Jahrtausende; und stürzte er endlich aus dem äußersten Tor – aber niemals, niemals kann es geschehen – liegt erst die Residenzstadt vor ihm, die Mitte der Welt, hochgeschüttet voll ihres Bodensatzes. Niemand dringt hier durch und gar mit der Botschaft eines Toten.– Du aber sitzt an Deinem Fenster und erträumst sie Dir, wenn der Abend kommt. Die kaiserliche Botschaft >>
- Eine Not. Er kommt nicht heraus aus den Palästen und Gärten der Zeitlosigkeit. Und zugleich sitzt er auf der anderen Seite und träumt davon. Aber er hat keinen Augenblick. Keine Tür. Die Botschaft verläuft sich.
- Auch eine Absurdität, fernab jeder Betroffenheit. Kafka soll seinem Freund Max Brod einmal gesagt haben, seine Erzählungen seien eigentlich humoristisch. Brod erzählte später, Kafka habe auch beim Vorlesen seiner Schrift "Der Process" so gelacht, dass er "weilchenweise nicht weiterlesen konnte".
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(C) Herbert Antonius Weiler, Februar 2025
© H e r b e r t A n t o n i u s W e i l e r