Groundhog Day
Der Mönch von Heisterbach und der Murmeltiertag
Im Rheinland gibt es die Sage über den Mönch von Heisterbach. Das Kloster Heisterbach am Fuß des Siebengebirges gehörte den Zisterziensern. Heute steht nur noch die Ruine eines Kirchenschiffs. Ein Mönch des Ordens mit Namen Ivo soll eines Tages, als er im Klostergarten weilte und über jenen Psalm nachdachte, in dem es heißt, Denn tausend Jahre sind für dich wie der Tag, einem Vogel gefolgt sein, weil er so schön sang.
Der Vogel flog in den angrenzenden Wald und der Mönch ging hinterher. Irgendwann unter einem Baum verlor sich der Gesang. Der Mönch war indes müde geworden, setzte sich unter den Baum und schlief ein wenig. Als er erwachte, hörte er die Glocken der Klosterkirche, die zur Vesper riefen. Er machte sich gleich auf, fand die Tür in der Gartenmauer, durch die er eben noch getreten war, um dem Vogel zu folgen, seltsam verwittert und zugewachsen. Wie er dann die Kirche betritt, erkennt er keinen der Mönche mehr und seinen Platz hat ein anderer eingenommen. Verwirrt spricht er die fremden Klosterbrüder an, fragt nach diesem und jenem seiner Brüder und erfährt, dass alle, die er kannte, schon längst verstorben sind. Als er seinen Namen sagt, erzählt man ihm die Geschichte von einem Mönch gleichen Namens, der vor dreihundert Jahren, zu der Zeit als Engelbert Erzbischof von Köln wurde, in den Garten ging und nicht wiedergekommen sei.
Nun begreift er, dass dreihundert Jahre vergangen sind, während er doch nur dem Vogel gefolgt war.
Und der Satz über den er skeptisch nachgedacht hatte, war ihm nun zur Wirklichkeit geworden.
Der Vogel, dem er in den Wald gefolgt war, hatte ihn aus der Zeit herausgeführt.
Die Geschichte mag ihre Vorbilder haben, teils mehr oder weniger ähnlich verlaufend, schon über Epimenides wird berichtet, er sei nur kurz in einer Höhle eingeschlafen und als er erwachte, waren 57 Jahre vergangen. Gleichwohl ist es stets das Motiv der Zeitlosigkeit wie auch die unterschiedliche Erfahrung der Dauer einer Zeit, die zum Thema werden.
Der Beginn der Geschichte des Mönchs von Heisterbach muss sich zu Anfang des 13. Jahrhundert zugetragen haben, denn Engelbert von Berg wurde im Jahre 1216 Erzbischof von Köln. Wenn der Mönch Ivo dreihundert Jahre später wieder erwachte, so war es nun 1516.
Es hatte sich mit der Renaissance und der aufkommenden Naturwissenschaft eine andere Auffassung von Zeit etabliert als vordem. Eine Vorstellung nach der die Ereignisse in einer bereits vorausgesetzten Zeit geschehen und durch die Gesetze des Raumes und der Zeit bestimmt sind. Dies im Sinne des Wissenschaftsdenkens, welches die Ereignisse als determinierte Geschehnisse vorausgegangener verursachender Geschehnisse innerhalb einer vorausgesetzten Zeit versteht. Perspektive >>
Descartes formulierte diese Vorstellung später in seinem Konzept vom Universum als Ideale Maschine. Sie führte bei Luther zu der irreführenden Übersetzung des ersten Wortes der Genesis: Statt Im Anfang heißt es bei ihm Am Anfang.
Die Fragen, über die der Mönch Ivo, angesichts der Aussage des Psalms sinnt, nach der bei Gott Tausend Jahre wie ein Tag sind, waren Fragen die im Zuge des 16. Jahrhunderts aufgekommen waren. Er konnte sie beantworten.
Zum Ende des zwanzigsten Jahrhundert kam eine neue Legende auf, in der ebenfalls das Erlebnis der Zeit den gewohnten Ablauf verlässt, hier aber als Wiederholung des immer Gleichen. Das Thema ist eine echte zeitgenössische Sage der Industriegesellschaft mit ihren sich wiederholenden Abläufen und Reproduktionstechniken, wenn etwa am Fließband Tausende gleicher Fahrzeuge ausgestoßen werden, auch wenn deren Produzenten, die Arbeiter, Tag um Tag das Gleiche verrichten, wo Tag und Nacht, die natürlichen Gezeiten, keine Bedeutung mehr haben, geschweige denn die Jahreszeiten, die doch früher, bei allem was der Mensch baute und bewerkstelligte, eine entscheidende Rolle hatten.
Zeit ist austauschbar geworden, wie nie zuvor in der Geschichte. Daher konnte ein Film, in dem ein Mann immer wieder den gleichen Tag erlebt zum sprichwörtlichen Topos werden. Der deutsche Titel ...und täglich grüßt das Murmeltier wird seitdem in den Medien als Redensart verwendet, wenn sich, etwa im politischen Geschehen, Situationen in einer gewissen Ausgeliefertheit wiederholen. (...)
Textauszug
© H e r b e r t A n t o n i u s W e i l e r